In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt

Seite 7: Tödlicher Verkehr

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Mit der Ehe der Javals geht es danach buchstäblich bergab. Auf der Treppe droht Paul Camille Gewalt an, wenn sie nicht endlich sagt, warum sie ihn nicht mehr liebt und sogar verachtet. Als Antwort geht Francesca an den beiden vorbei, und als personifiziertes schlechtes Gewissen. Ganz unten ist das blaue Meer, das Reich des Neptun. Auf dem Weg dorthin machen Camille und Paul kurz Rast, um ihren Streit fortzusetzen. Auf einer der Stufen steht "No Trespassing", in blauer Schrift.

Alles hier gehört dem Meeresgott (man beachte Pauls blaues Hemd, passend zum blauen Capri-Oberteil Francescas). Wer will darf gern an das "Betreten verboten"-Schild am Anfang von Citizen Kane denken. Auch da versucht ein reicher Mann, sich eine Frau zu kaufen und die Kunst (bei Orson Welles ist es die Oper). Auch da ist die Manipulation durch die Massenmedien mit Politik und Sexualmoral verknüpft. Charles Foster Kane, ein Sammler antiker Statuen, strebt mit den Mitteln des Populismus einen Gouverneursposten an und stolpert über sein Liebesnest mit der Sängerin, die nicht singen kann.

Tödlicher Verkehr (17 Bilder)

Le mépris

Nach dem Sonnenbad auf dem Dach der rot angestrichenen Produzentenvilla geht Camille schwimmen. Ist sie jetzt eine von den nackten Sirenen, über die sich Prokosch im von der Farbe Blau dominierten Vorführraum so freute? Oder doch Penelope, die von den Freiern bedrängte Gattin des Odysseus? In einem Hollywoodfilm wäre hier ein hoch dramatisches Ende zu erwarten. Anstelle des Scheckhefts könnte Paul seine Pistole aus der Tasche holen und Prokosch abknallen. Camille würde dann erkennen, dass er sie wahrhaft liebt (wie in Pauls Odyssee-Interpretation) und ihm ewige Treue schwören, wenn die Polizei kommt, oder etwas in der Art.

Bei Godard macht der vom Zank ermüdete Odysseus unserer Tage erst mal ein Nickerchen. Als er aufwacht findet er Camilles Abschiedsbrief vor. Sie hat seine Pistole entladen und ist mit Prokosch zurück nach Rom gefahren, um dort in ein Hotel zu ziehen (oder doch in den Palazzo?). Scheinbar hat sie den Anfang von Godeys Kriminalroman vergessen oder das Buch gar nicht gelesen. Die Warnzeichen häufen sich. Was mit dem roten Bademantel auf der Dachterrasse begann endet an einer Tankstelle. Wir sehen Prokosch und seinen Alfa. Zur Verstärkung des Warnsignals hat ihm Godard einen roten Pullover angezogen.

Camille versucht, Prokosch mit Gesten zu erklären, dass sie wieder als Tippse arbeiten will (sie kann kein Englisch, er kein Französisch). Sie trägt jetzt ein blaues Oberteil. Gehört sie dem Produzenten also schon, ohne es zu wissen? Falls ja, wird er davon nichts mehr haben. Beim Einbiegen auf die Straße kollidiert der rote Alfa mit einem LKW. Der Unfall ist tödlich. Das wird gern so interpretiert, dass der Produzent der Händler des Todes ist. Man kann aber auch sagen, dass ihn Godard nicht davonkommen lässt. Im Roman von Moravia stirbt nur die Frau des Drehbuchautors. In Le mépris sind beide tot.

Adieu Neptune

Die Freiheit des Regisseurs definierte Godard später so: Er habe zwar das Geld Levines und Pontis genommen, aber selbst bestimmt, wofür er es ausgab. Den Autounfall hätte er mit spektakulären und sehr teuren Stunts inszenieren können. Er entschied sich für die (viel billigere) Stilisierung. Die letzte Zeile von Camilles Abschiedsbrief zieht an uns vorbei und füllt die Leinwand. Vor dem "Adieu" fährt Prokosch mit einem Ruck auf die Straße. Wir hören die Aufnahme eines Autounfalls aus dem Tonarchiv. In einer fließenden Bewegung bringt uns die Kamera zum zwischen den Anhängern des LKW verkeilten Alfa.

Levine muss sich furchtbar geärgert haben, als er sich das anschaute. Wichtiger als jeder Stunt ist für Godard, dass die Tanks auf den Anhängern blau gestrichen sind. Gegen den modernen Straßenverkehr ist kein Meeresgott gefeit (ein Thema, das Godard weiter beschäftigte, wie man an Weekend sehen kann, seinem Film über Autofahren und Barbarei). Beim Zeigen der Unfallfolgen verzichtet Godard auf jeden Anschein von Realismus. Der Schaden am Alfa beschränkt sich auf eine zerbrochene Windschutzscheibe, einen kaputten Rückspiegel und ein paar andere Autoteile vom Schrottplatz.

Adieu Neptune (23 Bilder)

Le mépris

Mit aufgemalten Verletzungen hängt Prokoschs Kopf nach links aus dem Auto, der von Camille nach rechts. Man muss kein Unfallexperte sein, um zu wissen, dass das mit Realismus nichts zu tun hat. Von Godard ist der Ausspruch, dass Blut im Film nur rote Farbe ist. Genauso zeigt er es. Durch das Hervorheben der Inszenierung distanziert er das Publikum und dessen Schaulust. Die Befriedigung des Voyeurismus war seine Sache nicht, weder beim Tod durch Gewalteinwirkung noch beim Präsentieren nackter Frauenkörper.

Auch Hollywood-Filme enden manchmal tragisch. Die Überlebenden haben eine wertvolle Lektion erhalten und werden es in Zukunft besser machen. Paul Javal dagegen hat nichts gelernt. Er packt seinen Koffer und wird zurück nach Rom fahren, zur Eigentumswohnung und in die Simulation einer bürgerlichen Sicherheit, mit der das Unglück begonnen hat. Autoren, die das Drehbuch für die nächste Superhelden-Fortsetzung schreiben, braucht man immer. Wie wäre es mit einem Herkules-Film, in dem Giorgia Moll die Sexsklavin des Tyrannen spielt und von Totò, dem Nachbarn von Roberto Rossellini, gerettet wird?

Fritz Lang macht immer weiter, auch ohne Produzent. "Man muss beenden, was man angefangen hat", sagt er. Auf dem Dach der Villa dreht er die Szene, in der Odysseus nach langer Irrfahrt seine Heimat wiedersieht, Ithaka. Auf dem Dach sind Schienen verlegt. Es endet, wie es begonnen hat: mit dem Bild von einer Kamerafahrt. Mit Odysseus blicken wir hinaus zum Horizont und auf das blaue Meer. Aus dem Off hören wir die Stimme von Godard, der als Langs Assistent "Silence!" ruft, anschließend übersetzt ins Italienische: "Silencio!".

Ruhe ist geboten, weil hier mit Direktton gearbeitet wird und nicht nachsynchronisiert, was der Nouvelle Vague ein Graus war (und von Godard mit dem Casting im Silver Cine persifliert wird). Das "FIN" am Schluss ist ebenfalls blau und damit in der Farbe gehalten, die viele Regisseure der Neuen Welle als die ihre reklamierten. Le mépris ist einer der ganz großen Filme der 1960er. Heißt das aber auch, dass Neptun besiegt ist und ihm die Rebellen, die Kämpfer gegen die Götter, sein Reich entrissen haben? Die Antwort gibt der vierte (und letzte) Teil:

Jacqueline Bisset und das Ende einer Männerfreundschaft

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