In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt
Seite 6: Hinter Gittern
Javal und Lang gehen zu Fuß zur Villa und unterhalten sich über die Odyssee. Paul ist ganz auf die Linie des Produzenten eingeschwenkt, der aus Odysseus eine Figur in einer antikisierten Seifenoper machen will (mit Gesangseinlagen, Monster und nackten Frauen), weil er sich davon größere Gewinne verspricht. Mit Langs Plan einer werkgetreuen Verfilmung hat das nicht mehr viel zu tun. Prokosch aber zahlt gut, und Javal ist ohnehin dabei, seine eigene Ehe mit der von Odysseus und Penelope gleichzusetzen und die Odyssee entsprechend hinzubiegen.
Die Odyssee nach Paul Javal: Odysseus zog nur in den Krieg gegen die Trojaner, weil er Ärger mit Penelope hatte. Darum brauchte er nach der Zerstörung Trojas auch zehn Jahre, um nach Ithaka zurückzukehren. Inzwischen wurde er von Penelope verachtet, weil sie die Aufforderung, freundlich zu den Freiern zu sein und ihre Geschenke anzunehmen, falsch verstanden hatte. Typisch Frau. Wird immer gleich emotional, während der Mann strategisch denkt. So wie Camille. Die Banalität dieser Begegnung der Gegenwart mit der Antike ist Welten von dem entfernt, was Rossellini anzubieten hat.
In Viaggio in Italia besucht Ingrid Bergman die antike Stadt Cumae. Ein Fremdenführer zeigt ihr die Stelle, wo Aeneas mit den überlebenden Trojanern zum ersten Mal italienischen Boden betreten haben soll. Dort, sagt der Führer, seien im Krieg auch die Engländer gelandet. Da trifft sich also, über die Jahrhunderte hinweg, der Held von Vergils Aeneis, dessen Nachkommen der Überlieferung nach Rom gegründet haben, mit den britischen Truppen, die im Zweiten Weltkrieg Italien befreiten. Rossellini kriegt es hin, dass man einen Moment lang glaubt, den Atem der Geschichte spüren zu können.
Wer so etwas von Le mépris erwartet wird desillusioniert. Odysseus, behauptet Javal, habe Liebe und Achtung Penelopes wiedergewonnen, indem er die Freier tötete. Wie macht man das, wenn man der Held in einer von einem selbst imaginierten Seifenoper ist? Pfeil und Bogen wie bei Homer sind zu archaisch. Javal hat eine Pistole mitgebracht, die in der Wohnung in Rom im Bücherregal versteckt war - wo sonst bei einem Autor, der sich in Fiktionen flüchtet, um keine Verantwortung für sein eigenes Tun übernehmen zu müssen? Godard gibt ihn dafür der Lächerlichkeit preis.
Hinter Gittern (20 Bilder)
In einem Fenster der Villa lässt sich Camille von Prokosch küssen, weil sie weiß, dass Paul auf dem Dach steht und sie beobachtet. Die Inszenierung soll ihn zwingen, endlich Stellung zu beziehen und sich zu entscheiden, ob er der Zuhälter der eigenen Frau sein oder Prokosch in die Schranken weisen will, auch wenn das schlecht für Bankkonto und Karriere ist. Fast könnte man glauben, dass es funktioniert, wenn Paul sich nicht zu betont dramatischer, eine finale Konfrontation ankündigender Musik in Bewegung setzen würde wie in einem billigen Melodram.
In diesem Film, in dem die Musik ein Eigenleben führt, ist das ein Warnsignal. Vor der Villa steht Francesca und kämmt sich das Haar. Sie trägt einen gelben Bademantel. "Schöne gelbe Farbe", sagt Fritz Lang, weil sich Godard gelegentlich die Freiheit nimmt, auf Elemente hinzuweisen, die ihm wichtig sind. Gelb war das Oberteil, das Francesca im Palazzo gegen ein rotes tauschen musste (unter dem Mantel lugt ein rotes Stück Stoff hervor, zur Erinnerung). Gelbe Bademäntel haben die Körper der jungen Frauen umhüllt, die man im fertigen "Odysseus"-Film als nackte Sirenen sehen wird. "Nausikaa" trug einen roten.
Die Farbkodierung verbindet den sexuellen Missbrauch mit der Zurschaustellung nackter Frauen auf der Leinwand. Paul Javal ist jedes Mal beteiligt: als Drehbuchautor, der so tut, als habe er von den Übergriffen des Produzenten nichts mitgekriegt; als Ehemann, der seine Frau mit ihm allein lässt, obwohl sie das nicht will; und als Prokoschs Lohnschreiber, der das Drehbuch nach dessen Wünschen ändert. Als Möchtergern-Odysseus im Ehedrama hat er seine Waffe verloren und es nicht einmal gemerkt. Francesca hat sie gefunden und gibt sie zurück. "Kinder sollen nicht mit Feuerwaffen spielen", kommentiert Lang süffisant.
Die Fenster der Produzentenvilla sind vergittert. Alle, die hineingehen, sind Gefangene des Systems. Alle haben ihre Gründe. Lang will seinen Film beenden. Javal will 10.000 Dollar und eine Eigentumswohnung für sich und Camille, von der Prokosch denkt, dass er sie ihm auf die eine oder andere Weise abkaufen kann. Francesca scheint Prokosch hörig zu sein. Sie geht als letzte hinein und zieht das Gitter vor der Tür hinter sich zu. Das Haus ist das Pendant zur Erziehungsanstalt, die am Ende der Vierhundert Schläge auf Antoine Doinel wartet.
Verengte Perspektive
Die Sitzmöbel im Salon der Casa Malaparte sehen aus, als habe Godard sie dort hinbringen und blau beziehen lassen. Sie korrespondieren mit den blauen Sitzen im Vorführraum der Atelierstadt und mit dem Blau des Meeres, dem Reich von Neptun. Im blau markierten Herrschaftsgebiet des Gottes der Filmwelt werden Menschen gedemütigt und erniedrigt. Am besten geht das vor Publikum, weil es den Machtanspruch des Potentaten untermauert, wenn er Francesca zur Schreibunterlage und zum Sexualobjekt macht (Vorführraum) und Fritz Lang wie einen Lakaien behandelt (Salon) und die anderen schauen betroffen zu.
Die Pistole, die einst von den Nazis gezogen wurde, wenn sie das Wort "Kultur" hörten, ist nur noch ein läppisches Accessoire, mit dem sich einer wie Javal lächerlich macht. Prokosch hat das Geld, und wer das Geld hat, hat die Macht. In Le mépris hat das einen Preis, der sich nicht in Dollars ausdrücken lässt. Man bezahlt mit einer Verengung der Perspektive. Am Anfang seines Spaziergangs mit Lang zur Villa ist Paul Javal Teil eines Bildes mit grandioser Landschaft. Godard nützt die Breite des CinemaScope-Formats voll aus. Paul steht am Rand der Einstellung, nichts hemmt seinen Blick, aber er steht auch an einem Abgrund, weil so etwas nicht ohne Risiko zu haben ist.
Verengte Perspektive (17 Bilder)
In der Villa angekommen, sieht er die Landschaft nur noch gerahmt, durch die Panoramafenster, zwischen denen er hin und her läuft wie ein gefangenes Tier. Noch enger wird der Blick beim Auftritt des Produzenten. Prokosch holt Camille vom Fenster weg, um ihr durch ein Guckloch zu zeigen, wie schön das Meer, die Bäume und die Felsen sind. Dann versammeln sich die fünf Hauptfiguren vor einem der Fenster wie das Personal eines Theaterstücks. Als Ergänzung zu den blauen Sitzmöbeln hat die Requisite Pflanzen mit gelben und roten Blüten in den Salon gestellt.
In dem nun aufgeführten Dramolett erregt sich Paul darüber, dass alle Bereiche des Lebens vom Geld durchdrungen sind, beruflich wie privat. Am Beispiel der fünf Personen kann man sich überlegen, was das bedeutet. Paul kündigt Taten an und wird so passiv bleiben wie immer. Camille dürfte sicher das Konkubinenzimmer beziehen und müsste nicht mehr als Tippse arbeiten, wenn sie den Avancen des Produzenten nachgeben würde. Francesca ist offenbar dem Nimbus von Macht und Geld verfallen. Trotz der Demütigungen schmiegt sie ihre Wange an Prokoschs Hand wie ein Haustier. Sie würde auch mit der Kammer für die Zofe vorlieb nehmen.
Fritz Lang, der große alte Mann des Kinos, sitzt als Beobachter dabei und wie jemand, den nichts mehr aus der Ruhe bringt, weil er alles schon erlebt hat in dem Gewerbe. Bei den bürgerlichen Künsten gehört es zum guten Geschmack, dass man die ideologischen und finanziellen Umstände nicht sieht, die ihnen Form und Gestalt geben. Godard konfrontiert uns mit ihnen, und Fritz Lang ruft beim Sichten seiner Muster zum Widerstand auf, indem er den Odysseus seines Films zum Kämpfer gegen diese Umstände erklärt (oder gegen die Götter, was nur ein anderes Wort dafür ist).
Sichtschutz
Odysseus zu sein ist aber nicht so einfach. Das hatte auch Godard erfahren, als ihm Ponti und Levine nach mehreren Misserfolgen das Geld für einen neuen Film nur im Austausch für nackte Haut von Brigitte Bardot geben wollten. Godard hielt sich an die Abmachung, auf seine Weise. Die Szene auf der Dachterrasse der (rot angemalten) Produzentenvilla ist eine Demonstration, wie man an Originalschauplätzen dreht, sich das dort Vorgefundene zunutze macht und mit visuellen Mitteln die Zwänge thematisiert, unter denen man steht.
Der geschwungene Sichtschutz, den Malaparte bauen ließ, um neugierige Blicke abzuwehren, war für Godards Zwecke ideal. Paul sucht Camille. Die Kamera begleitet ihn und nimmt uns, die Voyeure im Kinosaal, mit hinter die Mauer. Da liegt Brigitte Bardot als nacktes Sexsymbol und sonnt sich, weil das die Bedingung der Produzenten war. Auf ihrem Hintern ist ein Buch aus der Schwarzen Reihe des Gallimard-Verlags drapiert (ein Detail, das die ironieresistenten US-Kritiker zur Weißglut trieb).
Sichtschutz (19 Bilder)
Bardots nackter Körper liegt auf einem dieser Bademäntel ("Schöne gelbe Farbe."), die bei einer Prokosch-Produktion dafür da sind, dass die Frauen etwas zum Ausziehen haben. Daneben hat Godard einen zweiten Bademantel platziert, in Rot. Was soll er da? Das wissen wir inzwischen. Gelb und Rot sind die Farben des sexuellen Missbrauchs - sei es ganz direkt wie in Prokoschs Palazzo, in dem Francesca ihr Oberteil wechseln musste, sei es durch das Entblößen von Bardots Körper auf dem Dach von Prokoschs Villa, zur Befriedigung des Voyeurismus. Die in Rom gecastete "Nausikaa" trägt einen roten Mantel, bevor sie nackt ins Wasser springt, umrahmt von den gelben Mänteln der Komparsinnen.
Der Kriminalroman im schwarzen Umschlag stellt die Verbindung zur Wohnung der Javals in Rom her. Bände aus der Serie noire sind dort neben dem Ehebett gestapelt. Auf Bardots Hintern liegt jetzt ein Exemplar von Frappez sans entrer, der französischen Übersetzung von John Godeys The Fifth House: In einem Wohnviertel für Reiche und Privilegierte wird eine junge Frau gefunden, die Opfer eines Autounfalls wurde. In der Folge wird die Frage verhandelt, was sich die Reichen alles leisten können, weil sie das Geld haben und damit die Macht - und was die weniger Privilegierten zu tun bereit sind, um etwas davon abzubekommen.
Den Godard-Hut auf dem Kopf, setzt Paul sich neben Camille und nimmt den Krimi in die Hand, als würde er sich für den Inhalt interessieren. Damit entfernt er das letzte Feigenblatt. Godard nimmt sich von dem schäbigen Handel, auf den Paul sich eingelassen hat, überhaupt nicht aus. Der nackte Frauenkörper liegt zwischen dem schwarzen Krimi und dem gelben Bademantel, weil er die Szene so geschrieben und inszeniert hat. Dafür hat er das Geld für den Film erhalten, und ein Honorar als Drehbuchautor und Regisseur. Auch in seinen Filmen kann man lesen wie in einem Buch. Die Gegenstände sprechen zu uns wie aus einem Gemälde.
Wer sich lieber an Dialogen orientiert muss sich nicht grämen. Paul fängt wieder mit der alten Leier an, allerdings mit neuem Dreh: Camille soll entscheiden. Soll er das Drehbuch umschreiben, die 10.000 Dollar nehmen und die Eigentumswohnung damit abbezahlen - oder nicht? Camille ist nicht dumm. Sie weiß gleich, dass Paul ihr nur die Verantwortung zuschieben will, um ihr dann Vorwürfe machen zu können. Das Spiel spielt sie nicht mit. Er werde es so oder so machen, sagt sie: "Ich kenne dich." Und dann noch einmal: "Ich kenne dich." Ist es Anna Karina, die da spricht, in einem Ehestreit mit Godard?
Besonders die US-Kritiker mokierten sich so sehr über den nackten Po, dass man auch mal fragen darf, ob daraus die moralische Empörung spricht oder die Frustration, weil kein nackter Busen zu sehen ist. Dafür müsste Bardot tun, was sie in der ersten Nacktszene, mit Paul im Bett, angeboten hat: sich hinknien oder aufstehen. Hier macht sie es. Bardot steht auf - dies allerdings erst, nachdem Godard die Kamera auf der (für Voyeure) falschen Seite der Mauer postiert hat. Das ist der Notwendigkeit geschuldet (full frontal nudity hätte Levine trotz gelockerter Zensurvorschriften in den USA herausschneiden müssen) und zugleich die Distanzierung von dem, was wir soeben gesehen haben.
Der Platz der Kamera, sagt Le mépris, ist auf der anderen Seite des Sichtschutzes, wenn es für die nackte Frau dahinter keine inhaltliche Begründung gibt, nur eine kommerzielle. Wenn Bardot hinter dem Sichtschutz hervorkommt hat sie den gelben Bademantel nicht aus-, sondern angezogen. Sie ist jetzt Camille Javal, eine Figur in einem Film von Godard, nicht das Sexsymbol in einem Film, wie ihn Levine und Ponti wollten und wie Paul ihn schreiben soll.
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