In Neptuns Reich: Godard, Odysseus und die Götter der Filmwelt
Seite 3: Im Oldsmobile zu General De Gaulle
Erste Publikumserfolge gelangen Chabrol mit Le beau Serge und Les cousins. Als "Geburtsstunde" der Neuen Welle aber wird gern der 4. Mai 1959 genommen, als Truffaut in Cannes mit dem autobiographischen Les quatre cents coups triumphierte, dem ersten von vier Spielfilmen mit Jean-Pierre Léaud als Antoine Doinel. Der Film war nicht nur formal ein Wagnis. Erzählt wird vom Versagen der Gesellschaft und aus der Perspektive eines als schwer erziehbar eingestuften Jungen, nicht aus jener der Erwachsenen, was das übliche Verfahren gewesen wäre.
Danach war die Nouvelle Vague in aller Munde. Der Begriff geht auf Françoise Giroud zurück, eine formidable Kämpferin für die Gleichberechtigung der Frau im Berufsleben, wobei es da neben Licht auch Schatten gibt. Giroud stammte aus einer Familie von Mizrachim (orientalischen Juden). Sie war Drehbuchautorin und Journalistin, wurde von der Gestapo festgenommen und entging knapp der Deportation. 1953 gründete sie mit Jean-Jacques Servan-Schreiber das Nachrichtenmagazin L’Express, wo sie eine ganze Riege von Journalistinnen ausbildete und förderte, diese jedoch auch ermuntert haben soll, sich auf Affären mit Politikern einzulassen, wenn es der Aufklärung von Skandalen dienlich war.
Im Oktober 1957 berichtete Giroud im Express über eine Studie zur französischen Jugend, "Nouvelle Vague" genannt, die unzufrieden mit dem Status quo war und sich Veränderungen wünschte. Im Juni 1958 veröffentlichte sie bei Gallimard ein Buch über das Thema: La Nouvelle Vague, portraits de la jeunesse. Inzwischen hatte der Kritiker Pierre Billard den Begriff bereits dem neuen französischen Film als Etikett angeklebt (im Februar 1958 in der Zeitschrift Cinéma). Nachdem Truffaut und Alain Resnais (Hiroshima, mon amour) in Cannes für Aufsehen gesorgt hatten wurde er vorzugsweise in diesem Zusammenhang verwendet.
Im Oldsmobile zu General De Gaulle (17 Bilder)
Chabrol und Truffaut hatten bewiesen, dass mit der Nouvelle Vague etwas zu verdienen war. Das half dem Produzenten Georges de Beauregard dabei, Geld für Godards ersten Spielfilm aufzutreiben. Am Anfang von A bout de souffle (Außer Atem) klaut Jean-Paul Belmondo das kurzgeschlossene Oldsmobile eines amerikanischen Offiziers, und Godard kapert ein Hollywoodgenre (den Gangsterfilm), um richtig Gas zu geben und rauszuholen, was noch drin ist in der alten Mühle. Autoritätsfiguren, die den Regisseur und seinen Hauptdarsteller aufhalten wollen, werden kurzerhand über den Haufen geschossen.
"Früher hatte es nur eine Möglichkeit gegeben", sagte Godard hinterher. "Es gab nur eine Möglichkeit, wie man Dinge tun konnte. Es gab Leute, die das verteidigten, als hätten sie das Urheberrecht darauf, wie bei einen Geheimkult für die Eingeweihten. Darum bedauere ich es nicht, Außer Atem gemacht und das alles in die Luft gesprengt zu haben." Godard traf damit einen Nerv. Außer Atem wurde ein fast so großer Kassenerfolg wie Truffauts Les quatre cents coups, mit Citizen Kane von Orson Welles verglichen und als das ästhetische Manifest gerühmt, das der Nouvelle Vague noch gefehlt habe.
Nouvelle Vague heißt: Regie und Drehbuch in einer Hand. Improvisation. Dreharbeiten nicht im Atelier sondern an Originalschauplätzen und auf der Straße (in Raoul Coutard hatte Godard einen kongenialen Kameramann, der als Kriegsphotograph in Indochina gelernt hatte, mit natürlichen Lichtquellen zu arbeiten, beweglich zu sein und unter schwierigen Umständen am Objekt dranzubleiben, ohne es umzurennen). Verstoß gegen die eingefahrenen Regeln des Erzählkinos (in A bout de souffle wechseln sich desorientierende Jump Cuts mit ungeschnittenen, enervierend langen Einstellungen ab). Das Unterlaufen von Sehgewohnheiten und Zuschauererwartungen aller Art. Provokation und Experiment.
In Paris, in der Straße vor den Redaktionsräumen der Cahiers, scheint die bloße Anwesenheit des jungen Belmondo auszureichen, um einen Unfall auszulösen und Unordnung in die geregelten Abläufe zu bringen. Mit ihm fuhr die filmästhetische Erneuerung in die Hauptstadt von General de Gaulle. Er und Truffaut, sagt Godard, "wollten Jungs und Mädchen zeigen, die, wenn sie den Film sahen, sich selbst und die Welt sahen". Die Welt der Jungs und der Mädchen, heißt das, nicht die von Papa und Oma. Belmondos Paris ist das von Johnny Hallyday, der im Jahr darauf Salut les copains veröffentlichte, sein zweites Studioalbum, mit dem er sich zum Entsetzen der Älteren als Jugendidol etablierte.
Am 22. Juni 1963 kamen, Schätzungen nach, bis zu 200.000 Fans zu einem Gratiskonzert mit Johnny Hallyday auf der place de la Nation. Durch dieses Kollektivereignis wurde Frankreichs Jugend zu einer soziologischen Kategorie; bis dahin hatte es nur junge Erwachsene gegeben, und die Betroffenen waren so behandelt worden. Zwei Wochen später rief der Soziologe Edgar Morin in der Zeitung Le Monde die "Generation Yé-Yé" aus. Kategorisieren und in Schubladen stecken heißt auch: kontrollieren und das subversive Potenzial einer Bewegung einzäunen.
Der schmierige Intellektuelle trifft das Sexsymbol
Der Großangriff der Nouvelle Vague "auf die geheiligten Säulen des Tempels" (Truffaut), der zum Einsturz gebracht werden sollte, war bald vorüber. Zumindest gab es immer weniger Zuschauer, die mit dabei sein wollten oder denen Verleiher und Kinobetreiber dies ermöglichten. 1960 feierte man noch die Vitalität der Neuen Welle. 1961 war ein Jahr der Misserfolge. Lola, von seinem Schöpfer Jacques Demy als "Musical ohne Musik" beschrieben (ein wunderbarer Film und eine Verbeugung vor Max Ophüls), floppte genauso wie Truffauts Tirez sur le pianiste, ein tragikomischer Film noir mit Musik, nach einer Vorlage von David Goodis.
Am schlimmsten erwischte es Godard. Le petit soldat, der etwas andere Spionagefilm, war sein Kommentar zum Algerienkrieg, wurde von der Zensur sofort verboten und durfte erst aufgeführt werden, als der Krieg vorbei war. Während Truffaut seine Karriere vorerst stabilisieren konnte (mit Jules et Jim gelang ihm einer seiner größten Erfolge, künstlerisch wie kommerziell), stieß Godards nächstes Werk auf Unverständnis. Une femme est une femme, seine "Idee von einem Musical", ist eine Meditation über die amerikanische Filmkomödie der 1930er, in Farbe und in CinemaScope, wie üblich gespickt mit Zitaten und mit Anna Karina, Jean-Claude Brialy und Jean-Paul Belmondo erstklassig besetzt.
"Tirez sur le pianiste" & "Jules et Jim" (14 Bilder)
Godard hat nie mehr einen Film gedreht, der so voller Lebensfreude ist wie dieser. Sehen wollte das damals kaum jemand, oder vielleicht fehlte es schlicht an der Gelegenheit. Als größter Kassenflop der Nouvelle Vague gilt Les carabiniers, ebenfalls von Godard. Im Mai 1963 in Paris angelaufen, war er gleich wieder verschwunden. Kriegsfilme hatten eigentlich Konjunktur, einer wie Die Karabinieri aber nicht. Godard erklärte sich das so: "Die Leute mögen Kriegsfilme, in denen Soldaten sterben, Frauen gefoltert und alte Damen vergewaltigt werden. Sie lieben das, aber es muss zum Heil des Vaterlandes sein." Mit so etwas wollte er nicht dienen. Les carabiniers liebten die Leute nicht.
Der schmierige Intellektuelle trifft das Sexsymbol (Les carabiniers) (8 Bilder)
Durch die Misserfolge wurde die Nouvelle Vague angreifbar. Die Vertreter von Papas Kino, also Regisseure wie Claude Autant-Lara, etablierte Drehbuchautoren und Kritiker, verhöhnten Truffaut und seine Freunde als Amateure, Langweiler und von sich selbst berauschte Intellektuelle, und sie schmähten sie als Totengräber des französischen Films. Dagegen lässt sich einwenden, dass es eine weltweite Strukturkrise des Kinos gab und die Neue Welle dadurch, dass sie frischen Wind in die Vorführsäle brachte, den Niedergang wenigstens noch ein paar Jahre aufhalten konnte, ehe auch in Frankreich die Zuschauerzahlen einbrachen.
Les carabiniers markiert einen Wendepunkt. Godard erfuhr von seinem Produzenten Beauregard, dass dessen italienischer Partner Carlo Ponti keine Lust mehr hatte, verrücktes Zeug zu finanzieren, das nichts einbrachte. Der Not gehorchend schlug er vor, einen Roman zu verfilmen, mit einem richtigen Drehbuch und mit Stars. Der größte Filmstar Frankreichs war Brigitte Bardot, das von den Konservativen verdammte Sexsymbol. In den Augen von Truffaut & Co. verkörperte sie eine neue, unverkrampfte Form der Erotik und der weiblichen Sexualität, die sich auf erfrischende Weise von der verkitschten Schlüpfrigkeit abhob, mit der sonst daran gearbeitet wurde, die Phantasie des Zuschauers in Wallung zu bringen.
Truffaut beispielsweise schrieb sehr positiv über Roger Vadims Et Dieu … créa la femme (1956), warf den Bardot-Verächtern Frauenfeindlichkeit vor und lobte Vadim dafür, dass er nicht andere Filme, sondern das Leben kopiere, indem er eine junge Frau auf realistische Weise alltägliche Dinge tun lasse, vom Herumnesteln an ihrer Sandale bis zum Sex, und das am helllichten Tag! Am helllichten Tag liegt sie vor allem nackt in der Sonne Südfrankreichs und zeigt uns ihren Hintern (der Anfang von Le mépris zitiert das an, und ein rotes Auto gibt es auch). Ein Verriss, die Warnung vor dem Untergang des christlichen Abendlandes inklusive, war da eigentlich obligatorisch.
Der schmierige Intellektuelle trifft das Sexsymbol (Et Dieu … créa la femme) (11 Bilder)
Truffaut löste mit seinem Text einen Eklat aus. Die von den Konservativen verdammte Bardot schickte ihm einen Brief und bedankte sich für die Ermutigung. In ihrer Autobiographie liest sich das ganz anders. Auf ihre alten Tage zur Anhängerin von Le Pen geworden, spricht sie mit Blick auf die Regisseure der Nouvelle Vague von "dieser Sorte schmieriger Intellektueller, die mit der Linken liebäugeln" und sie auf die Palme bringen. 1963 half es Godard, sie zur Mitwirkung an Le mépris zu bewegen, weil er einer von diesen schmierigen Intellektuellen war, die sie publizistisch unterstützt hatten.
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