Irgendwie, irgendwo, irgendwann...

2006 - war da was? Ein Jahr zwischen Blasphemie, Patriotismus, GraSS und Hotte Köhler

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2006, meinten wir zu Jahresbeginn (vgl. Ende des Mainstream?), werde das Jahr der Psychologie. Das traf in Schwarze, zugegebenermaßen noch mehr, als wir erwartet hatten: Ob Karikaturenstreit oder Vogelgrippe, WM-Patriotismus oder GraSS-Skandal, Libanon-Krieg oder Irankrise, Köhler oder Bush - alles nur in den Köpfen, die Einstellung ist die Einstellung, und verglichen mit 2005 kam das letzte Jahr genauso genommen reichlich substanzlos daher.

Es begann alles ganz lustig. Mit Karikaturen. Während der traditionellen Pilgertour in Mekka hatte ein Teil der offiziellen muslimischen Welt Karikaturen des so genannten Propheten Mohammed, die bereits im Oktober 2005 in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" und kurz darauf auch in Ägypten veröffentlicht worden waren, für sich entdeckt und instrumentalisiert.

Das war dann bald weniger lustig, denn der ungebildete, fanatische oder fanatisierte Teil der muslimischen Welt lief vier Wochen lang Amok. Dänische Flaggen wurden verbrannt, dänische Waren boykottiert, Botschaften belagert oder geschlossen, und in Deutschland rührte sich erwartungsgemäß bald erstes Verständnis für die Betroffenheit der armen Muslime, zum Beispiel von "Mahner" Günter Grass (auf den wir noch kommen werden), oder von Provinzpolitiker Edmund Stoiber, der den Schutz religiöser Gefühle anmahnte. Und die französische Supermarktkette Carrefour nahm alle dänischen Lebensmittel aus dem Sortiment. Auf den Druck der Straße hin entschuldigte sich am 31. Januar der Chefredakteur des "Jyllands-Posten" dafür, dass die Zeitung die Gefühle vieler Muslime verletzt habe.

Als dann radikalere Einzelstimmen von Seiten der Moslems sich mehrten, wie die des Minderheitenministers im indischen Bundesstaat Utapradesh, der ein Kopfgeld von elf Millionen Dollar auf die Ermordung der Karikaturisten aussetzte, wurden Quislinge stiller und die Reaktionen im Westen prinzipieller. Auch deutsche Zeitungen (taz und Welt) veröffentlichten die Karikaturen - "Wir drucken sie auch, weil es zur Pressefreiheit gehört, sich dem Druck radikaler Moslems nicht zu beugen." -, und andere zumindest Auszüge, während BILD und SPIEGEL in verlässlicher Feigheitsallianz deren Abdruck ablehnten: "Ich persönlich würde in "Bild" keine Karikaturen drucken, die bewußt religiöse Gefühle verletzen." (Kai Diekmann, BILD-Chefredakteur). Seitdem ist die "Verletzung religiöser Gefühle" zum rhetorischen Standard-Motiv aller Populisten und Reaktionäre geworden.

Das Menschenrecht auf Blasphemie

Mit Verzögerung verstand man hierzulande, um was es eigentlich ging: Um demokratische Rechte, um Meinungsfreiheit, um das Menschenrecht auf Blasphemie, das Recht, Gott zu karikieren und um den Versuch einer Einschüchterung des Westens und mit ihm aller Anhänger von Freiheit und Aufklärung. Natürlich: Ähnliche Einschüchterungsversuche und Berufungen auf Verletzung religiöser Tabus gibt es auch im Westen, wenn auch ungleich weniger massiv. Aber noch nie hat ein Unrecht ein anderes gerechtfertigt (vgl. Karikaturen über Holocaust als Gegenangriff).

Inzwischen wurde die Veröffentlichung der Karikaturen von einer Geschmacksfrage zu einem Symbol, zu einer moralischen Pflicht und der Karikaturenstreit zu einer Nagelprobe auf die Bereitschaft des Westens zur Selbstzensur auf seine Fähigkeit, zu seinen Prinzipien in Zeiten ihrer Bedrohung zu stehen. Denn Selbstzensur ist schlimmer als jede andere Zensur, da sie Freiheit freiwillig opfert.

Übrigens verlangen wir, dass sich alle Muslims dieser Welt, der König von Saudi-Arabien, der Minderheitenminister von Utapradesh, und die Regierung des Iran bei uns noch für diese abscheuliche Beleidigung unserer westlichen Werte und die Verletzung unserer Gefühle entschuldigen.

Ein neues Wort

Wieder mal ein neues Wort: Pandemie. Die Vogelgrippe kam nach Europa - und nichts passierte. Alle vorhergesagten Katastrophen blieben zur Enttäuschung der Unglückspropheten aus. Zwei Schwäne, ein Habicht und eine Katze auf Rügen starben, Ornithologen traten zur Prime Time im Fernsehen auf und "Stallpflicht" hatte kurzfristig Chancen, zum Wort des Jahres zu werden. Edmund Stoiber sorgte sich um die Bauern. Zehntausende Vögel wurden trotzdem notgeschlachtet - man weiß ja nie. Unter den wenigen Überlebenden war auch ein Telepolis-Autor (vgl. I survived die Vogelgrippe).

Bei der Berlinale lief gleichzeitig mit Terence Malicks "The New World" der beste Film des Jahres; gewonnen hat natürlich ein anderer, Jasmila Zbanics "Grbavica" (vgl. Beschädigte Leben), ein folgenloser Weltverbesserungsfilm, künstlerisch/ästhetisch völlig ohne Ehrgeiz.

Angst vor dem Fremden

Im März zog die Gesellschaft dann aus nach Neukölln, um das Gruseln zu lernen. Auf der Berlinale lief auch Detlev Bucks "Knallhart", der Film zur Rütli-Schule, bevor man wusste, was diese überhaupt ist. Topfschlagen, das harmlose Geburtstagsspiel, sah man nach diesem Film mit anderen Augen. Buck war zurück - so stark wie nie! Eine Geschichte über einen 15-jährigen, der aus dem noblen Zehlendorf in den Berliner Stadtteil Neukölln gezogen ist, der Magazinen wie dem "Spiegel" seit Jahren als proletarisches Schreckenskabinett und symbolische Rückseite der Berliner Republik dient, als Indiz für das angebliche "Scheitern von Multikulti".

Plötzlich war Neuköln dann überall (vgl. Neukölln ist überall), der Erziehungsnotstand die Sau, die man durchs Dorf trieb. Filme wie "Knallhart" und Reportagen aus der Rütli-Schule (vgl. Klassenkampf in Neukölln) bedienten, wohl eher unwillentlich, auch die Angst mancher Deutscher vor dem Fremden, eine Sicht, die auch mit längst integrierten Deutsch-Türken der Dritten Generation nur Zwangsheiraten, Koranschulen, Ehrenmorde und Drogenhandel verbindet, und die zu groben Übertreibungen führt.

Ein Übriges tat zur gleichen Zeit der Action-Film "Tal der Wölfe" (vgl. Von einer Gesellschaft, die auszog, das Gruseln zu lernen), ein vulgäres B-Movie, in der die Amerikaner mal ausnahmsweise nicht die good guys sind. Ein schlechter Film. Aber warum dürfen Türken keine schlechten Filme machen? Eberhard Rathgeb von der FAZ, sonst ein besonnener Kopf, fühlte trotzdem ein persönliches "Integrationsproblem", und staunte über die vielen Türken in einem Neuköllner Türkenkino. Und Edmund Stoiber forderte ein Verbot.

Der Triumph der kleinen Form, der bereits 2005 erkennbar war, setzte sich zumindest im Filmbereich fort: "L.A. Crash" gewann den Oscar für den besten Film, auch "Capote" und "Brokeback Mountain" gewannen wichtige Preise.

Das Adam-Prinzip

April ist der grausamste Monat. Im Berliner "Ehrenmord"-Prozess wurde der Bruder, der seine Schwester im Namen der Familienehre erschossen hatte, zu neun Jahren und drei Monaten Jugendhaft verurteilt. Nach knapp fünf Monaten erklärte Matthias Platzeck seinen Rücktritt als SPD-Chef. Neuer Parteivorsitzender wurde Kurt "Rotkohl" Beck. In Italien wurde Berlusconi abgewählt, trotz (oder wegen) Edmund Stoibers Schützenhilfe. Kurz danach deckte man auf, dass in Italien die Fußballmeisterschaften des letzten Jahrzehnts größtenteils manipuliert worden waren ein Sportskandal ohne Beispiel, der aber - erwartbar in Italien - weitgehend folgenlos für die Täter blieb.

Der April war der Monat der Männer. Männer schrieben gelehrte Bücher und Artikel über Frauen und Kinder, die Familie, die Deutschen, die aussterben. Schuld sind immer erstmal die saumseligen 68er, der schlimme Hedonismus und die böse Selbstverwirklichung. Wer diese Bücher liest, der stößt immer auf die gleichen Behauptungen: Die Deutschen sterben aus, die Gesellschaft wird immer älter - was alles schon falsch wäre, wenn man es aus dem verengten nationalen Blickwinkel betrachten würde, den die gleichen Autoren und ihre Jubelperser-Rezensenten sonst immer ablehnen. Fakt bleibt: Es gibt so viele Menschen wie noch nie. Und die Hälfte der Weltbevölkerung ist unter 30.

Das ist alles also nicht wirklich interessant. Interessant ist, dass es immer die Männer sind, die den Frauen (und ein paar Softie-Männern) erklären wollen, wo's lang geht. Und eine Frau machte mit: Eva Herman, Ex-Tagesschau-Sprecherin und Autorin des Bestsellers "Das Eva-Prinzip": Die Emanzipation habe dazu geführt, dass Frauen ihre biologisch festgelegte Aufgabe vergessen haben, Mann und Kinder zu versorgen. Ausnahmsweise kann man hier mal Familienministerin Ursula von der Leyen zitieren:

Es ist absurd, dass wir in Deutschland der Mutter, die mit dem Kind zu Hause bleibt, ein schlechtes Gewissen einreden, aber der Mutter, die arbeiten geht, auch ein schlechtes Gewissen machen. Reden wir eigentlich auch mal über die Frage, warum inzwischen mehr Männer als Frauen Kinder grundsätzlich in ihrem Leben ausschließen?

Das Labern der Anderen

"Mit uns geht die neue Zeit" - in Berlin wurde ein neues Kaufhaus mit Gleisanschluss eröffnet, "Hauptbahnhof" genannt, und gut 700 Millionen Euro teuer. Der traditionsreiche Bahnhof Zoo wurde dafür für den überregionalen Verkehr geschlossen, und die Bahnpreise erhöht.

Stilsicher gingen auch 1,6 Millionen Zuschauer in den falschen Film, der nicht ohne Grund zuvor von den Filmfestspielen von Cannes und Berlin angelehnt worden war. Doch die Stasi-Schmonzette "Das Leben der Anderen" (vgl. Mundgerecht konsumierbare Vergangenheit) von Florian Henckel von Donnersmarck ist so clever an der Geschichte vorbei sentimentalisierend, den Lebenslügen in Ost und West schmeichelnd, dass es ein Erfolg werden musste. Inzwischen bilden sich in Berlin Fraktionen von Donnersmarck-Hassern, nicht Neidern und längst nicht nur aus dem Osten, und erzählen sich Geschichten über die alte Website des smarten Regisseurs mit schlesischer Vertriebenen-Propaganda, oder man geht in die neueste Boulvardtheater-Verhackstückung von Rene Pollesch in der Volksbühne.

Dort tritt ein Henker von Donnersmarck auf und im Skript finden sich, montiert mit Schlesier-Heimatreden Wahrheiten über den deutschen Film: "Es ist rätselhaft und beinahe unerklärlich, dass mit den Schlesiern keine Heilsgeschichte zu erzählen ist, mit der Stasi aber schon." Oder: "Hitler, ,Das Parfüm', die RAF. Höchstens noch die Stasi, mehr ist aus Deutschland nicht rauszupressen." Von wegen stilsicher: Wetten, dass "Das Leben der Anderen" auch den Auslandsoscar und den Preis des Verbands der deutschen Filmkritik bekommt?

Einer der Stars des Jahres wurde der iranische Präsident Ahmadinedschad (vgl. Ahmadinedschad in Konkurrenz mit Osama?). Mit gezielten Provokationen nutzte er geschickt die Schwächen der USA, Europas und Israels und stärkte die Position seines Landes. Ob Atomstreit oder Holocaust-Konferenz - ein Meisterwerk an Psychologie.

Schwarzrotgeil und die Ökonomie der Psyche

Juni war der Monat der WM. Glauben könne Berge versetzen, glaubten die Deutschen und das Land kickte sich für einen Monat aus der Krise. Ob die Stimmung wirklich so toll war, oder sich nur alle dauernd gegenseitig einredeten, dass es so sei, ist rückblickend schwer festzustellen, im Ergebnis aber auch nicht weiter wichtig: Die Republik wurde flächendeckend zur Fanmeile.

Die psychologische Grundstruktur des Ganzen brachten die "Sportfreunde Stiller" schon vorab treffend auf den Punkt: "Wir haben nicht die höchste Spielkultur/ sind nicht gerade filigran/ doch wir haben Träume und Visionen/ und in der Hinterhand 'nen Masterplan/ für unseren langen Weg aus der Krise/ und aus der Depression/ lautet die Devise/ nichts wie rauf auf den Fußballthron." Romantik pur, man könnte auch Heinrich Heine kommentieren lassen: "O deutsche Seele, wie stolz ist dein Flug/ in deinen nächtlichen Träumen! ... Franzosen und Russen gehört das Land;/ das Meer gehört den Briten/ wir aber besitzen im Luftreich des Traums/ die Herrschaft unbestritten." Am Ende war Deutschland gemeuchelt von den hinterhältigen Italienern Weltmeister - der Herzen.

Und außerdem waren wir alle plötzlich Patrioten, und wer es partout nicht sein wollte, ein blöder Spielverderber - auch das ein Kapitel aus der Ökonomie der Psyche. Plötzlich hatten alle schwarzrotgeile Flaggen, sogar die Polizei, wenn man ihr das nicht verboten hätte. Die Deutschen müssen eben immer alles übertreiben. Und ein paar wissenschaftliche Meinungswächter, wie der Rechtsintellektuelle Hubertus Knabe behaupteten, "ein Tabu" sei gebrochen und freuten sich dass die "Meinungswächter" jetzt die "Übereinstimmung mit eigenem Land" nicht mehr verhindern konnten.

Vielleicht sollte man aber einfach mal aufhören, den Menschen Vorschriften zu machen, und den angeblichen Patriotismus als das nehmen, was er war, eine momentane Aufwallung (vgl. When The Music's Over), ganz normales Fantum, anstatt Ereignisse wie die WM dazu zu nutzen, sein Stimmungssüppchen zu kochen. Jedenfalls fiel schon auf, dass der WM-Patriotismus nicht einfach während der WM entstand, sondern von Beginn an da war, spätestens beim Spiel Deutschland gegen Polen, dem zweiten der Vorrunde - medial vermittelt, nicht nur durch BILD. Trotzdem: Mindestens dreihunderfünfzigmal am Tag konnte man während der WM dann irgendwo vom neuen Patriotismus der Deutschen lesen, der so wunderbar entspannt und selbstverständlich und unverkampft sei und überhaupt, und dass, wer da jetzt noch was gegen sagen wolle, es doch bitteschön jetzt aber wirklich arg verkrampft übertreibe... Es ist doch wirklich alles gut jetzt, oder?

Klar, alles gut. Dennoch: Was soll eigentlich zu solchen Anlässen immer das Normalisierungsgerede. Braucht die Welt eine normale Nation? Von singulären Verbrechen können die Deutschen sich auch nicht reinwaschen, wenn sie sich Deutschlandfahnen umhängen. Und dann immer noch dieses Selbstlob, obwohl man doch schon als Kind lernt, dass das immer etwas Unanständiges ist. Sollen doch die Anderen sagen, dass wir so toll unverkrampft und normal sind.

Auch dazu Heinrich Heine: "...wenn wir das vollenden, was die Franzosen begonnen haben, wenn wir diese überflügeln in der Tat, wie wir es schon getan im Gedanken, wenn wir uns bis zu den letzten Folgerungen desselben emporschwingen, wenn wir die Dienstbarkeit bis in ihrem letzten Schlupfwinkel, dem Himmel, zerstören, wenn wir den Gott, der auf Erden im Menschen wohnt, aus seiner Erniedrigung retten, ... Von dieser Sendung und Universalherrschaft Deutschlands träume ich oft, wenn ich unter Eichen wandle. Das ist mein Patriotismus."

Eine Absurdität am WM-Rande war die Kluft zwischen der Wirklichkeit und dem Bedrohungsszenario, das man vor der WM in vielen Medien ausbreitete: Die Testosterongesättigten Fanhorden, die die Staßenstrichs und Bordelle überschwemmen würden, um sich dort mit Zwangsprostituierten zu vergnügen. Der deutsche Frauenrat sprach gar von 40.000 erwarteten Zwangsprostituierten. Nach der WM war davon keine Rede mehr, das Prostitutionsgeschäft eher schleppend. Und die angeblichen "Verrichtungsboxen", in denen Geschlechtsverkehr im Fließbandverfahren abgewickelt werden sollte, gibt es nicht. Vielleicht hätte man eher an Verrichtungsboxen für Patriotismus denken sollen. Fähnchen am Auto sind jedenfalls immer blöd, egal ob in schwarzrotgold oder andersfarbig.

"Und, äh, es ist ganz klar, dass, äh, dieser Bär, äh, ein Problembär ist." so Edmund Stoiber über "Bruno", mit dem zum ersten Mal seit 170 Jahren wieder ein Braunbär in Deutschland gesehen wurde. In der Nacht zum 26. Juni wurde er erlegt.

Italien wurde Fußballweltmeister, im Elfmeterschießen, naja. Und alle sprachen nur über Zidane. Zinedine Zidane, für Franzosen und Europäer auch Zizou, wurde von der Fifa für drei Spiele gesperrt und muss 4800 Euro zahlen, sein Gegenspieler Materazzi für zwei Spiele, plus 3200 Euro Bußgeld. Schon seit dem WM-Finale 1998 gehört Zidane, zu den berühmtesten Kopfballspielern der Welt, weil er das Endspiel gegen Brasilien mit zwei Kopfballtoren früh entschied. Zidanes Kopfstoß im Finale 2006 entfachte eine Deutungsschlacht: Warum? Was bedeutet er? Was folgt daraus? Zidane selbst trug zur Deutung wenig bei. "Ich war nie ein besonders guter Kopfballspieler."

"Belastungsfähige Freundschaft"

Attentate und Entführungen israelischer Soldaten führten zu israelischen Gegenschlägen auf den Südlibanon. Diese weiteten sich im Juli zum Krieg mit der Hisbollah aus. Der Ölpreis steigt auf die Rekordmarke von 78,40 Dollar pro Barrel. Ungeschick und Fragwürdigkeiten der israelischen Politik und militärische Misserfolge kratzten nicht allein am Renommee des jüdischen Staates - sie wurden zum willkommenen Anlass für die westliche Anti-Israellobby.

So strickte man weiter an bekannten Verschwörungstheorien (vgl. Der amerikanisch-israelische Komplex) und ressentimentgeladenen Projektionen (vgl. Der Nahe Osten als Projektionsfläche) oder gab einfach dem alten Antisemitismus ein neues Gesicht. In Deutschland forderte ein Gruppe von Wissenschaftlern - "Manifest der 25" - eine "belastungsfähige Freundschaft" und Neuausrichtung der deutschen Israel-Politik, d.h. einen kritischeren Umgang mit Israel. Die dort entwickelte These vom "uneingeschränkten" Beistand Deutschlands ist zwar kaum belegbar. Versteht sich zudem, dass das juste milieu des linken und rechten Bürgertums nicht nur hier die antisemitischen Weltbilder unter Muslimen, ihren Rassismus und Holocaust-Leugnungen völlig ignoriert.

Abschied von einer Generation

Zumindest "Beim Häuten der Zwiebel" kommen Günter Grass die Tränen. Am 12. August erklärte der Literaturnobelpreisträger in einem medial geschickt platzierten Gespräch in der FAZ, er sei einst Mitglied in der Waffen-SS gewesen. Daraufhin wird die bevorstehende Veröffentlichung seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" vorgezogen, binnen Tagen ist die Erstauflage ausverkauft. Folge war ein öffentlicher Aufschrei, der vor allem der Rolle Grass' als deutschem Gewissen gilt.

Mit Grass späten Coming-Out war der kurze Sommer des federleichten WM-Patriotismus endgültig passé - und die Gesellschaft zurück im dunklen Wald bei schwerfälligen Debatten um Befindlichkeit, deutsche Seele und Vergangenheit. Fast zeitgleich mit den Memoiren des sozialdemokratischen Heros erschienen auch die Erinnerungen eines Helden der anderen, rechtskonservativen Seite, von Joachim C. Fest, mit dem in diesem Zusammenhang auch süffisanten, aber gleichwohl präzisen Titel "Ich nicht". Sie sind geprägt von einem ähnlich eitlen Blick zurück, der sich weniger befragt, als am Ende des Lebens bestätigt sehen will, und alte Schlachten noch einmal, verspätet wie unfair, ausficht - diese Doppelmemoiren, Fests realer und Grass geistiger Tod machten 2006 zum Jahr des symbolischen Abschieds von der "Flakhelfer-Generation".

Der zweite Sommerstar war Verbrechensopfer Natascha Kampusch. Das bizarre Schicksal dieses modernen Dornröschens beschäftigte weltweit die Gemüter - auch weil man sich vorstellen muss, wie viele Menschen sich wohl gerade jetzt in ähnlicher Lage befinden.

1945 im Gefangenenlager Bad Aibling war Günther Grass angeblich Joseph Ratzinger begegnet. Den konnte er im September wiedertreffen, als Benedikt XVI. Deutschland besuchte. Seine Regensburger Rede brachte das Verhältnis zur muslimischen Welt wieder zurück auf die Tagesordnung. Die Ängstlichkeit der Medienreflexe und die Absage einer Opernpremiere in Berlin als Reaktion auf Ansichten, die manche vielleicht beleidigend finden, verheißen Böses für die Zukunft der Freiheit. Der Denker Ratzinger immerhin stemmte sich dieser neuen Welle der Gegenaufklärung entgegen, indem er bei seinem Türkeibesuch vielerlei Zeichen der Integration der Muslime in den Westen setzte.

Kevin, Marvin, Jessica

Die wichtigere und produktivere Herausforderung des Westens kommt mehr denn je aus Asien. Daran erinnerte die Buchmesse und ihr Gastland Indien, dessen neuer Flirt mit China und ebenso Nordkoreas angeblicher Atombombentest. Deutschland diskutierte über die Unterschicht (vgl. Von der Unterschicht zum abgehängten Prekariat), laut Minister Müntefering nur eine Erfindung "von lebensfremden Soziologen". Einer davon ist Harald Schmidt, der sich schon seit Jahren übers Unterschichtfernsehen mokiert.

Andere Soziologen arbeiten bei BILD und decken uns mit Geschichten über das ein, was Jugendämter "Multiproblemfamilien" nennen und durch Unterbesetzung nicht zurechend bearbeiten können. Die Folge: Einzelne Kinder, leider haben sie meistens Namen wie Kevin, Marvin oder Jessica, sterben wegen Verwahrlosung. Das ist nicht schön. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass die ganze öffentliche Aufregung ein wenig künstlich ist, und vorrangig der klammheimlichen Ergötzung solcher Schichten dient, die von "Prekariat" reden, damit die Unterschicht nicht versteht, dass sie gemeint ist. Jedenfalls würde alles etwas weniger zynisch wirken, wenn die Empörten auch reflektieren würden, dass täglich mehr als 16 000 Kinder sterben weil sie nichts zu essen haben. Meistens nicht wegen Vernachlässigung durch die Eltern, sondern durch die Weltgemeinschaft. Warum ging das noch nicht durch die Nachrichten?

Hamlet bei der Bundeswehr

Gebildet zeigte sich die Bundeswehr bei einer spontanen Hamlet-Inszenierung in Afghanistan. Auch sonst war Sein oder Nicht-sein die Frage und ein zauderndes Gemüt bestimmend bei der Bundeswehr. 2006 brachte auch den endgültigen Abschied vom Rheinischen Kapitalismus. Der manteltarifgeschützte Facharbeiter spielt in der Realität genauso wenig noch eine Rolle wie der moralisch gestützte Unternehmer. Junker Ackermanns Nichtverurteilung und das Managerversagen zum Beispiel bei Siemens sind symbolischer Ausdruck der Lage - mehr als die ach so schreckliche Korruptionsaffaire im gleichen Haus. Da war die Empörung doch etwas übertrieben. Sie schmierten nämlich nicht nur für sich, sondern für unsere Arbeitsplätze. Transparency International? - da empfehlen wir mal einen Trip nach China und Indien.

Fast 400 Menschen starben im vergangenen Jahr während der Pilgerreise in Mekka. Mit Onlinewerbung wurden 2006 hierzulande gut 1,6 Milliarden Euro umgesetzt. Allianz machte 5,5 Milliarden Euro Gewinn und baute 5000 Stellen ab, Bayer 1,052 Milliarden Euro, 6000 Stellen minus. "Spex" zog nach Berlin (vgl. Spex wird geschreddert), "Tempo" erscheint noch einmal. Zum beliebtesten Stand-Up-Comedian wurde unser Horst, "Horst wer?" "Streit ist produktiv" sagte der Bundespräsident dem "Stern", darum streiten wir jetzt über ihn. Wenn Köhler an gleicher Stelle erklärt "Wir" (gilt das für ihn persönlich?) stünden erst "am Anfang eines Reform-Prozesses", dann möchte man doch wissen, was seiner Meinung nach eigentlich in den letzten zehn Jahren passiert ist.

Altäre für Fanatismus und Aberglauben

2006 - war da was? Die Existenzen und Öffentlichkeiten sind noch nomadischer geworden, als sie es bereits waren. Stabilität ist Schein. Eine antikapitalistische Kultur ist nach wie vor nicht in Sicht. Der Wunsch nach gesellschaftlichen Alternativen ist noch nicht stark genug. Der Fortschritt bleibt in Wartestellung, vielleicht, bis er in anderer, unangenehmerer Gestalt erscheint. "Irgendwie fängt irgendwo irgendwann die Zukunft an", argumentierte die Philosophin Nena in den 80er Jahren. Dieser Satz immerhin ist noch nicht widerlegt.

2006 war das Jahr der Psychologie. 2007 wird, so muss man fürchten, das Jahr der Widersprüche. Damit vielleicht aber auch, 250 Jahre nach seiner Versöhnung mit Friedrich dem Großen und dem Beginn der Arbeit am "Candide", das Jahr Voltaires:

In demselben Jahrhundert, in dem auf der einen Seite die Vernunft ihren Thron errichtet, sieht man auf der anderen Seite den absurdesten Fanatismus und Aberglauben seine Altäre bauen.