Ist der von der US-Regierung geplante Raketenabwehrschild Unsinn?
Nach einem Bericht der US-Geheimdienste kann das teure Lieblingsprojekt von Bush nicht gegen die wirklichen Bedrohungen der Zukunft schützen
Der 11.9. hat tatsächlich vieles verändert. Beispielsweise auch die Einstellung der US-Regierung zu den Bedrohungen für das eigene Land. Präsident Bush und sein Verteidigungsminister Rumsfeld setzten zunächst vornehmlich auf die Aufrüstung zur Abwehr militärischer Angriffe von Staaten und auf die Sicherung der militärischen Überlegenheit. Wieder aufgegriffen wurde dabei das noch im Kalten Krieg unter Präsident Reagan entwickelte Konzept des Star War. Das gegen alle Bedenken und nur mit einem Bruch des ABM-Abkommens vorangetriebene Projekt des Aufbaus eines Raketenabwehrschilds war der primäre Kern der strategischen Ausrichtung, die ganz allgemein die Militarisierung des Weltraums in den Blick nahm (Aufrüstung im All?). Die zu Bomben umfunktionierten Passagierflugzeuge haben aber auch die Bedeutung eines Raketenabwehrschilds in Frage gestellt.
Welche Rolle welche Technik in Fragen der nationalen Sicherheit und der militärischen Verteidigung und Angriffskapazität spielen soll, steht nach den Anschlägen vom 11.9. und dem Krieg in Afghanistan wieder ganz neu zur Diskussion. Der Terrorismus, der mit nicht militärischen Mitteln und einer nichtstaatlichen Organisationsform von kleinen, verstreut arbeitenden Gruppen Anschläge vorbereitet und mit relativ leicht verfügbaren Mitteln durchführt, verlangt als Reaktion natürlich ganz andere Maßnahmen als der Schutz vor dem Angriff eines Staates mit einer großen, hierarchisch streng geordneten und mit entsprechenden Waffen ausgerüsteten Armee, die gleichzeitig relativ unbeweglich und langsam ist (Kapituliert der Staat?).
Andererseits aber scheint der Krieg gegen Afghanistan in Folge des Irak- und Kosovo-Kriegs gezeigt zu haben, welche Bedeutung immer noch die "konventionelle" Luftwaffe, ergänzt durch bessere Aufklärung und Präzisionswaffen, besitzt. Angriffskriege gegen technisch unterlegene Gegner lassen sich durch Vernichtung aus der Luft und durch Distanzkrieg am besten führen, da dabei die Zahl der eigenen Opfer minimiert wird, aber ein solcher Angriff trotz des Einsatzes teurer Technik billiger kommt als der Einsatz von vielen Soldaten. In Afghanistan sorgte die Nordallianz für die Bodentruppen, allerdings werden sich über diesen für die USA strategisch glücklichen Vorteil kaum noch Länder finden, die derart militärtechnisch unterlegen sind und Luftangriffen nichts entgegen zu setzen haben.
1993 gab es die erste Warnung mit dem Anschlag auf das World Trade Center. Seit damals war deutlich, dass die USA nicht nur im Ausland von Terroranschlägen nichtamerikanischer Akteure bedroht war, sondern auch im Inland. Der Clinton-Regierung hatte sich von Beginn sicherheitsstrategisch daran orientiert, dass die große militärische Überlegenheit der Supermacht USA nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zerfall des Ostblocks die Gefahr "asymmetrischer" Angriffe mit biologischen, chemischen oder nuklearen Waffen oder auf die amerikanischen Computersysteme herauf beschwört (Die Gefahren des neuen globalen Zeitalters). Wirkliche Gefahr für die USA auf ihrem eigenen Boden droht weniger von anderen Staaten und vor allem Armeen, die wissen, dass sie bei einem Angriff nur verlieren können, als von Terrorgruppen und terroristischen Anschlägen, auch wenn diese verdeckt von Staaten ausgeführt werden.
Die Bush-Regierung hatte zunächst wieder auf die Bedrohung durch Langstreckenraketen von "Schurkenstaaten" gesetzt, um das teure Projekt des nationalen Raketenabwehrschilds durchsetzen zu können, das von der Clinton-Regierung blockiert wurde. Kritiker wiesen nicht nur auf die vielen technischen und sicherheitspolitischen Probleme eines solchen Systems hin, sondern hoben auch hervor, dass der Schutzschild keineswegs vor Angriffen etwa mit Nuklearwaffen schützt, wenn diese auf andere Weise als mit Trägerraketen, beispielsweise durch kleine unbemannte Flugzeuge, ins Land gebracht werden (Warum auch militärisch die teure Großtechnologie ein Auslaufmodell sein könnte). Zu dieser Erkenntnis sind nach den Anschlägen vom 11.9. jetzt auch die amerikanischen Geheimdienste in dem Bericht Foreign Missile Developments and the Ballistic Missile Threat Through 2015 wieder gekommen, den der National Intelligence Council beim CIA kürzlich veröffentlicht hat.
Der Bericht hält fest, dass manche nichtstaatlichen Organisationen chemische, biologische, radiologische und nukleare Waffen haben wollen, um diese auch ohne Verwendung von Raketen einzusetzen. Es sei wahrscheinlicher, dass die USA mit solchen Massenvernichtungswaffen über konventionelle Mittel wie Flugzeuge, Schiffe oder Lastwagen angegriffen würden, als mit Langstreckenraketen. Schon allein aus Kostengrünen sei dies zu vermuten. Im Unterschied zu Langstreckenraketen, die nicht nur teurer sind, sondern deren Entwicklung auch lange Zeit dauert und kaum unbeobachtet vonstatten gehen könne, sind die konventionellen Mittel leicht verfügbar und für kleinere Gruppen, die im Verborgenen arbeiten, auch verlässlicher und präziser. Zudem können die Angreifenden, wenn sie nicht Selbstmordanschläge machen, sich auch leichter der Ergreifung entziehen. Und wenn es den Raketenabwehrschild wirklich geben sollte, dann hätten die konventionellen Mittel eben auch den Vorteil, dass man diesem nicht ausrichten könne.
Das wären schlechte Aussichten für das Lieblingswaffensystem der US-Regierung, das auf 100 Milliarden Dollar veranschlagt wurde und sich so als teures, aber nutzloses Spielzeug in einer Welt mit neuen Bedrohungen und vor allem neuen Gegnern erweisen könnte (Erneut erfolgreicher Test des Raketenabwehrsystems). Allerdings geht es in dem Bericht eben auch um die Einschätzung der Bedrohung der USA durch Langstreckenraketen, und die Geheimdienste sagen in diesem Sinn diplomatisch, dass in den nächsten 15 Jahren die Bedrohung durch weiter entwickelte Fernstreckenraketen von Ländern wie Iran, Nordkorea, Irak, Russland und China zunehmen dürfte. Herausgestrichen wird, dass der Iran mittlerweile die meisten Missiles besitze und möglicherweise - vielleicht mit der Unterstützung Russlands - bis zum Ende des Jahrzehnts auch über Atomwaffen verfügen könne. Damit ließe sich dann also doch auch der Aufbau des Abwehrschilds wieder rechtfertigen, auch wenn der Bericht festhält, dass zwar existierende Waffenkapazitäten modernisiert werden, aber die Zahl der Länder, die über Langstreckenraketen verfügen, nicht ansteigen dürfte.
Nach den USA hat Russland noch immer die meisten Langstreckenraketen mit Nuklearsprengköpfen. Die US-Regierung muss zum Aufbau des Raketenabwehrschilds das ABM-Abkommen auflösen und versucht, Russland damit zu versöhnen, dass gleichzeitig eine Abrüstung stattfindet. Der neueste Vorschlag war, dass amerikanischen Nuklearsprengköpfe zwar abgebaut, aber nicht vernichtet, sondern nur eingelagert werden sollen - um sie bei Bedarf wieder zur Verfügung zu haben. Russland zeigte sich von diesem Vorschlag verständlicherweise nicht sonderlich begeistert. Allerdings wird in Russland die Abrüstung auch ohne Verhandlungen allein schon durch mangelndes Geld weiter gehen und die Zahl der jetzt auf 4.000 geschätzten Sprengköpfe auf 2.000 reduzieren.
Indien und Pakistan werden nach Einschätzung der Geheimdienste im gegenseitigen Wettrüsten weiter ihr Potenzial als Kurz- und Mittelstreckenraketen ausbauen. China habe bislang an die 20 Langstreckenraketen, die die USA erreichen könnten, aber plane deren Erweiterung und Modernisierung. Vor allem würden dort mobile Waffensysteme entwickelt werden. Im Laufe der nächsten 15 Jahre aber könnten bis zu 100 Langstreckenraketen auf die USA gerichtet sein. Bedrohlich könnte dies bei einer Konfrontation werden, bei der die USA militärisch Taiwan Beistand leisten. Gegen wenige Langstreckenraketen könnte der Schild einen Schutz bieten, wenn denn die Technik perfekt funktionieren würde, was manche auch bezweifeln. Allerdings soll China bereits sogenannte MIRVs (multiple-independent re-entry vehicles) entwickeln, um das Raketenabwehrschild zu unterlaufen. Hier trägt eine Rakete mehrere Sprengköpfe, die dann auf unterschiedliche Ziele gerichtet sind. Kombiniert mit gleichzeitig abgefeuerten Attrappen ließe sich mit solchen Systemen ein Abwehrschild austricksen, bei dem nur einzelne "kill vehicles" abgefeuert werden. Deren Zielsysteme werden durch Attrappen gestört. Und auch wenn ein Sprengkopf getroffen und vernichtet würde, blieben die anderen noch übrig. China antwortete allerdings vorhersehbar, dass solche Annahmen grundlose Spekulationen seien.