Justiz zu Klimaschutzgesetz: "Lippenbekenntnisse zum Klimaschutz reichen nicht aus"

Nach dem Klima-Beschluss Verfassungsgericht urteilte ein Gericht in Berlin zu Umweltrecht. Wie sind beide Entscheide einzuordnen? Jurist Thomas Groß klärt auf.

In dem vorliegenden Interview mit Prof. Dr. Thomas Groß wird die jüngste Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg über die Sofortprogramme für den Klimaschutz in der Verkehrs- und Wohnungsbaupolitik diskutiert. Die Bedeutung dieses Urteils wird mit dem als "Klimaurteil" bekannten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 2021 verglichen.

Groß, der den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung der Universität Osnabrück innehat, beleuchtet die Unterschiede zwischen den beiden Entscheidungen und erläutert, warum das OVG-Urteil möglicherweise noch größere Auswirkungen hat.

Das Interview wirft auch einen Blick auf die Rolle von Umweltorganisationen wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Deutschen Umwelthilfe (DUH) in Bezug auf Klimaklagen und deren Interpretation des BVerfG-Beschlusses.

Herr Prof. Groß, das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg hat die Bundesregierung in der vergangenen Woche zu Sofortprogrammen für den Klimaschutz in der Verkehrs- und Wohnungsbaupolitik verurteilt. Umweltschützer messen diesem Urteil die gleiche Bedeutung bei wie dem oft als "Klimaurteil" bezeichneten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24.03.2021. Teilen Sie diese Auffassung?

Einerseits hat das Urteil des OVG eher noch größere Bedeutung, weil es zum ersten Mal deutlich ausspricht, dass die Bundesregierung zu wenig tut, um die Treibhausgasemissionen zu verringern. Andererseits ist aber zu befürchten, dass es am Ende durch die zurzeit im Bundestag beratene Änderung des Klimaschutzgesetzes ausgebremst wird, mit der die Koalition die Pflicht zum Erlass von Sofortprogrammen abschaffen will.

Was ist der Unterschied zwischen dem BVerfG-Beschluss 2021 und dem Berlin-Brandenburger Urteil 2023?

Das Bundesverfassungsgericht hat das Klimaschutzgesetz an den Verpflichtungen gemessen, die sich aus den Grundrechten und dem Staatsziel Umweltschutz ergeben. Es hat festgestellt, dass es grundsätzlich ausreichend ist, die Minderungsschritte für die Zeit nach 2030 aber genauer festgelegt werden müssen. Wichtig war außerdem die Begründung, in der die Dringlichkeit des Klimaschutzes deutlich ausgesprochen wurde.

Im Urteil des OVG geht es um ein Versäumnis der Bundesregierung bei der Umsetzung des Klimaschutzgesetzes. Dieses verteilt bisher die Minderungspflichten auf verschiedene Sektoren. Wenn sie verfehlt werden, muss das zuständige Ministerium ein Sofortprogramm verabschieden, um möglichst schnell zusätzliche Einsparungen von Treibhausgasemissionen zu erreichen. Dies haben das Verkehrs- und das Bauministerium zwei Jahre lang verweigert. Strittig war hier v.a., ob Umweltverbände solche Sofortprogramme einklagen können.

Thomas Groß ist Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsvergleichung an der Universität Osnabrück.

Verfassungsgericht 2021: "Korrekt wäre, von Teilerfolg zu sprechen"

Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) erinnerte angesichts des Urteils in Berlin nun auch an die "erfolgreiche BUND-Klimaklage vor dem Bundesverfassungsgericht". Aber gerade der BUND und die Deutsche Umwelthilfe waren damals doch gar nicht erfolgreich?

Der Hauptantrag, das Klimaschutzgesetz als insgesamt unzureichend zu verwerfen, wurde in der Tat vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Ein Verfassungsverstoß wurde nur in einem eigentlich eher untergeordneten Punkt festgestellt. Interessanterweise hat das Gericht den Klägern trotzdem die Erstattung der Hälfte ihrer Kosten zugesprochen, die Entscheidung also sozusagen als "unentschieden" gewertet. Korrekt wäre also, von einem Teilerfolg zu sprechen.

Dennoch bestehen Umweltschützer bis heute auf der Darstellung, die Bundesregierung sei vom BVerfG im Frühjahr 2021 generell zu mehr Klimaschutzmaßnahmen verpflichtet worden. Ist ihr tatsächlich nicht nur die Selbstermächtigung abgesprochen worden, die Grenzen für CO2-Emissionen nach 2030 zu bestimmen?

Unmittelbares Ergebnis der Entscheidung war lediglich die Pflicht, eine Anlage des Gesetzes um zehn Zahlen für die Jahre nach 2030 zu ergänzen, was auch zügig erfolgt ist. Dagegen wurden Parlament und Regierung zu keinerlei zusätzlichen Maßnahmen verpflichtet, mit denen eine tatsächliche Reduktion von Treibhausgasen erzielt werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich in der Begründung angemahnt, dass die Verpflichtungen aus dem Gesetz umgesetzt werden müssen.

Hat die Bundesregierung seit dem 2021er-BVerfG-Beschluss gegen das Grundgesetz verstoßen und sind Klimaaktivisten in Folge Verfassungsschützer?

Das ist eine sehr umstrittene Frage. Die jährlichen Obergrenzen für die Treibhausgasemissionen sind in Deutschland bisher eingehalten worden. Es ist aber jetzt schon klar, dass die bisher beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen werden, um die verbindlichen Ziele für die künftigen Jahre zu erreichen.

Das Problem ist, dass die Gerichte in der Regel immer erst nachträglich urteilen, zum Teil mit Jahren Verspätung. Diese Zeit haben wir im Bereich des Klimaschutzes aber nicht. Deshalb sind in der Tat alle, die sich aktiv für mehr Klimaschutz einsetzen, Verfassungsschützer.

Viele Interpretationen des BVerfG-Beschlusses stützen sich auf die damalige Begründung, nicht aber auf das Ergebnis des Beschlusses. Tatsächlich haben sich die Karlsruher Richter zur Begründung ihres Beschlusses geschrieben, die "zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen aber in ihren Freiheitsrechten verletzt".

Andererseits heißt es in den Erwägungen des Ersten Senats: "Dass Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 14 Abs. 1 GG wegen der Gefahren des Klimawandels verletzt sind, kann nicht festgestellt werden." Was denn nun?

Der Beschluss ist ganz offensichtlich ein Kompromiss, in dem verschiedene Argumentationen kombiniert wurden. Wenn das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung von Schutzpflichten festgestellt hätte, wäre die Politik viel stärker unter Druck geraten. Das Bundesverfassungsgericht hat andererseits in den letzten Jahrzehnten noch nie eine solche Grundrechtsverletzung im Bereich des Umweltrechts festgestellt, weil immer auch entgegenstehende ökonomische Interessen als legitim angesehen werden.

Die Verletzung von Freiheitsrechten hat im Beschluss lediglich eine Hilfsfunktion, um zu begründen, warum die Zeit nach 2030 jetzt schon berücksichtigt werden muss. Für aktuelle politische Entscheidungen hat dieser Teil der Begründung keine unmittelbare Relevanz, er dient nur als Mahnung.

Klimaschutz und Gesetz: "Es muss sofort gehandelt werden"

Welche Rechtspflicht erwächst aus diesen Erwägungen für die Exekutive?

Man könnte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in folgendem Satz zusammenfassen: Nehmt das Klimaschutzgesetz ernst, aber wir werden uns nicht in Einzelentscheidungen einmischen. Deshalb wurde später z.B. auch eine Klage auf Einführung eines Tempolimits abgelehnt.

Die Durchsetzung des Gesetzes muss deshalb in erster Linie durch die Verwaltungsgerichte kontrolliert werden. Ein großes Defizit liegt hier darin, dass bei sehr vielen Einzelentscheidungen, z.B. im Bau-, Verkehrs- oder Energiebereich, gar nicht sorgfältig geprüft wird, welche Auswirkungen sie auf die künftigen Treibhausgasemissionen haben.

Wurde die Bundesregierung von BVerfG rechtsverbindlich zu irgendetwas verurteilt, verpflichtet oder anderweitig angehalten, außer dazu, die Entscheidung über Emissionsgrenzen dem Bundestag zu überlassen?

Thomas Groß: Nein.

Sie haben zwei Jahre nach dem Beschluss vor allem die mangelnde Würdigung des BVerfG durch die Verwaltungsgerichte bemängelt. Ändert sich das durch das Urteil des OVG Berlin-Brandenburg?

Thomas Groß: Ich kenne die Begründung des OVG bisher nicht, aber in der Tat ist es das bisher wichtigste Urteil, um deutlich zu machen: Lippenbekenntnisse zum Klimaschutz reichen nicht aus, es muss sofort gehandelt werden. Umso bedrückender ist die Aussicht, dass die Regierungsmehrheit das Urteil durch die vorgeschlagene Änderung des Klimaschutzgesetzes seiner Wirkung berauben will.

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