Justizmord im Namen des Gesetzes: Die Hinrichtung der Hungrigen
Vor 200 Jahren endete ein Postraub blutig. Acht arme Bauern überfielen ein Geldkärrnchen. Fünf von ihnen erlitten ein grausames Schicksal. Wie steht es um solche Justiz heute?
Mit welchem Recht maßen es die Menschen sich an, ihresgleichen zu töten?
Cesare Beccaria, 1764
Am 19. Mai 1822 überfielen acht arme Bauern und Tagelöhner aus dem Hessischen Hinterland ein "Geldkärrnchen", das an diesem Tag von Gladenbach nach Gießen fuhr. Es war geplant, dass der Überfall in der Subach, einem Hohlweg in der Nähe von Mornshausen, stattfinden sollte. Nach sechs vergeblichen Versuchen glückte der Überfall.
Die Beute betrug 10.466 Gulden. Nach der Aufteilung entfielen auf jeden 800 Gulden, was dem Tageslohn von zehn Jahren entsprach. Ihr plötzlicher Reichtum wurde den Tätern zum Verhängnis, denn sie fielen durch ihre Ausgaben auf. Das führte dazu, dass man die Täter bald ermittelt hatte und ins Kriminalgefängnis nach Gießen überführte.
Einem von ihnen gelang die Flucht, zwei andere nahmen sich während der Haft das Leben. Den verbliebenen fünf Einmal-Räubern machte man den Prozess. Am 24. März 1824 verhängte das Hofgericht in Gießen gegen sie die Todesstrafe durch das Schwert. Ein halbes Jahr später wurde das Urteil am 7. Oktober 1824 vollstreckt, nachdem ein nach Darmstadt gesandtes Gnadengesuch vom Landesherrn abgelehnt worden war.
Was für eine überschüssige, zusätzliche Grausamkeit, zum Tode Verurteilte ein halbes Jahr auf die Vollstreckung des Urteils warten zu lassen! Die Obrigkeit setzte den Schlussakt des Dramas und die Rache des Souveräns auf dem Marktplatz groß in Szene.
Man führte die Verurteilten zum Richtertisch, der da aufgebaut war, wo die Gießener heute an den Markttagen Brötchen und Gemüse einkaufen. Die Urteile wurden noch einmal verlesen und über jeden der Stab gebrochen.
Das ist keine Metapher, sondern man brach über den Köpfen der Verurteilten jeweils einen schwarzen Stab in zwei Teile und warf sie ihnen vor die Füße. Symbolisch wurde damit dargestellt, dass sie ihr Leben verwirkt hatten und nun nichts mehr zu retten war.
Dann zog man, wie der Chronist Carl Franz vermerkte, mit einer großen Menschenmenge und angeführt von Seelsorgern zum Richtplatz, der sich draußen vor der Stadt in Richtung Marburg befand. Dort war das Blutgerüst aufgebaut, auf dem der Scharfrichter seines Amtes walten sollte. Karl Bruno Leder hat in seinem 1980 erschienen Buch "Todesstrafe" den Ablauf einer Hinrichtung wie folgt beschrieben:
Außer dem Block befindet sich auf dem Schafott sehr oft, später sogar obligatorisch, ein Sandhaufen, vor dem der Verurteilte dann niederkniet. Man fesselt ihm die Hände, meist auf dem Rücken, schneidet ihm die Nackenhaare und verbindet ihm die Augen mit einer weißen Binde. Alle diese vorbereitenden Tätigkeiten werden von den Knechten des Henkers ausgeführt. Der Meister selbst rührt dazu keine Hand.
Er hat bis dahin abseits gestanden und die Vorbereitungen beobachtet. Nun tritt er vor und zieht unter seinem Mantel das Richtschwert hervor. Anders als beim Hängen, das er meist von seinem ersten Gehilfen, dem sogenannten Löw', ausführen lässt, vollstreckt er eine Enthauptung immer mit eigener Meisterhand.
Der Verurteilte, der bis zum letzten Augenblick betet, gibt oft dem Henker ein Zeichen, dass er bereit sei zu sterben. Man erwartet von ihm, dass er den Kopf hoch erhoben hält und so den Hals dem Schwertschlag preisgibt. Bringt er dazu nicht die Kraft auf, so muss ein Knecht des Henkers den Kopf an den Haaren hochhalten.
Der Meister legt seinen Mantel ab, tritt hinter den Delinquenten, fasst das Schwert mit beiden Händen und lässt es blitzend durch die Luft sausen. Mit einem einzigen Streich – so lautet jedenfalls die Vorschrift – schlägt er dem Verurteilten den Kopf ab. Der Körper des Enthaupteten sinkt nach vorn; aus dem Halsstumpf sprudelt in dickem Strahl das Blut. Der Kopf rollt über das Schafott. Der Henker hebt ihn an den Haaren hoch und zeigt ihn dem Volk.
Die Gießener Hinrichtung wird ähnlich abgelaufen sein und verlief ohne besondere Vorkommnisse, wie das Protokoll vermerkte. Als letzter starb Hans Jacob Geiz, nachdem er mit ansehen musste, wie seine beiden Söhne hingerichtet worden waren. Die Köpfe fielen jeweils mit dem ersten Streich. Misslang das, konnte sich der Volkszorn schnell gegen den Henker richten.
"Das Mitleid des Henkers liegt im sicheren Hieb", heißt es lakonisch bei Ernst Jünger. In Gießen scheint an diesem Herbsttag nichts den Volksfestcharakter der Veranstaltung gestört zu haben, und nach vollzogenem Blutgericht zog man zurück in die Stadt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns im Jahr 1824 befinden und nicht im sogenannten finsteren Mittelalter. Fünfunddreißig Jahre waren seit der Französischen Revolution und der Verkündigung der Menschen- und Bürgerrechte vergangen, die Lehren von Beccaria, Montequieu und Voltaire waren zugänglich und verbreiteten sich über ganz Europa.
Peu à peu wurden die Strafgesetzgebungen humanisiert und die Eigentumsdelikte von der Liste der todeswürdigen Verbrechen gestrichen. Der Postraub in der Subach fand an der Schwelle zu einer justiziellen Zeitenwende statt. Im benachbarten Kurhessen wären die Räuber schon damals mit einer zeitigen Freiheitsstrafe davongekommen.
Es ist eine Absurdität des an Absurditäten reichen Justizsystems, dass manchmal Zufälle der Geographie über Leben und Tod entscheiden. In Kurhessen hätten die Räuber eine gewisse Zeit ihres Lebens bei harter Arbeit und karger Kost im Gefängnis verbringen müssen.
Im Geist der neuen bürgerlichen Zeit und der Aufklärung begann man, Schuld zu quantifizieren und in Zeit umzurechnen, die dem von einem Gericht schuldig Gesprochenen von seinem Lebenszeitkonto abgebucht wurde. Nach meiner Erfahrung bekäme man heute als Ersttäter für einen bewaffneten Überfall auf einen Geldtransport sieben Jahre.
In der Subach waren halb verhungerte, arme Schlucker zur Tat geschritten und wurden aus der Not heraus für einen Tag zu Räubern. Dieser eine Tag, an dem niemand schlimmer zu Schaden kam, kostete sieben von ihnen das Leben. Sie hatten den Kutscher und den begleitenden Landschützen in den Wald gestoßen und dort geknebelt und gefesselt auf den Boden gelegt.
Dann brachen sie den Kasten auf, in dem das Geld lag und verließen den Tatort. Den beiden Überfallenen gelang es bald, sich von den Fesseln zu befreien. Sie wandten sich in den nächsten Ort und brachten das Verbrechen zur Anzeige. Die Dinge nahmen ihren geschilderten Lauf.
Das Verbrechen hatte die etablierte Ordnung kurzfristig erschüttert, die Strafe und ihre Vollstreckung sollten sie wieder herstellen. Über dem Hinterland lagerten nun wieder das Schweigen und die leere Finsternis des Himmels.
Zehn Jahre nach der Hinrichtung der Kombacher Räuber schrieben Georg Büchner und Ludwig Weidig, ein paar Kilometer von der Hinrichtungsstätte entfernt, den Hessischen Landboten, in dem sie den verelendeten bäuerlichen Menschen einen politischen Ausweg aus ihrer Lage aufzeigen wollten: "Friede den Hütten, Krieg der Palästen" lautete Büchners und Weidigs Parole.
Die Flugschrift ging in der andauernden Finsternis der hessischen Zustände unter und wurde von den Bauern, die sie auf ihrer Schwelle fanden, brav bei der Obrigkeit abgeliefert. Dem jungen und ungebundenen Büchner gelang – wie vor ihm dem David Briel, dem Tippgeber von Kombach – die Flucht, der Butzbacher Familienvater und Pfarrer Weidig wurde inhaftiert und nahm sich 1837 im Darmstädter Arresthaus nach langen seelischen und körperlichen Torturen das Leben.
All das gehört zum geschichtlich unabgegoltenen Erbe, das seiner Erfüllung und Einlösung noch immer harrt. Die Formen des Elends haben sich gewandelt, das Elend selbst besteht fort. Bis auf den heutigen Tag.
Albert Camus' Vater nahm kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Algier an der Hinrichtung eines Mannes teil, der eine ganze Bauernfamilie, Eltern und Kinder, getötet hatte. Vater Camus war empört und fand das Todesurteil gegen den Mörder gerecht:
Er stand mitten in der Nacht auf, um sich mit vielen anderen Leuten zusammen ans andere Ende der Stadt auf den Richtplatz zu begeben. Was er an jenem Morgen sah, erzählte er keinem Menschen. Meine Mutter berichtet nur, dass er mit verstörtem Gesicht überstürzt nach Hause kam, sich ohne ein Wort der Erklärung einen Augenblick auf sein Bett legte und sich plötzlich erbrach.
Er hatte eben die Wirklichkeit entdeckt, die sich hinter den hochtrabenden, bemäntelnden Redensarten verbarg. Anstatt an die hingemetzelten Kinder zu denken, hatte er nur noch den an allen Gliedern zitternden Körper vor Augen, den man auf ein Brett geworfen hatte, um ihm den Hals durchzuschneiden.
Vater Camus begriff, dass die Strafe genau so empörend ist wie das Verbrechen und dass dieser weitere Mord die der Gesellschaft zugefügte Schmach nicht nur nicht wieder gutmacht, sondern durch eine neuerliche Schmach verschärft. Camus bezeichnete die Todesstrafe in seinem Essay "Die Guillotine" als "einen Schandfleck unserer Gesellschaft".
Fast identisch erlebte George Orwell eine Hinrichtung, der er als junger kolonialer Polizeioffizier in Burma beiwohnte. Er schildert sie in einem Text, der "Einen Mann hängen" heißt. Die Hinrichtung fand frühmorgens auf einem Gefängnishof statt. Der Gefangene, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem buschigen Schnurrbart, hatte sich in sein Schicksal ergeben und ließ sich widerstandslos zum Galgen führen.
Orwell ging hinter ihm und sah zu, wie der Mann scheinbar willenlos vor sich hin trottete. Plötzlich trat er zur Seite, um einer Pfütze auszuweichen. Diese kleine Ausweichbewegung ließ Orwell urplötzlich gewahr werden, dass da ein Mensch vor ihm ging, nicht lediglich ein verurteilter Delinquent.
Als ich den Gefangenen zur Seite treten sah, um der Pfütze auszuweichen, erkannte ich das Geheimnis, sah, welch ungeheuerliches Unrecht es ist, einem Leben gewaltsam ein Ende zu setzen, das in voller Blüte ist. … Er und wir waren Menschen, die zusammen einen Weg zurücklegten, welche die gleiche Welt erblickten, hörten, fühlten, begriffen, und in zwei Minuten mit einem plötzlichen Knack, würde einer von uns nicht mehr da sein – ein menschliches Wesen weniger, eine Welt weniger.
George Orwell
Orwell antwortete auf die Frage nach dem Sinn dieser Erfahrung mit der Gestaltung seines weiteren Lebenslaufs. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten, nach dem Hitler-Stalin-Pakt unermüdlich gegen die stalinistischen und anderen totalitären Lügen, schließlich bezog er nördlich von London ein Cottage, pflanzte Obstbäume und Rosen und widmete sich dem Schreiben unvergesslicher Bücher. Er starb 1950 im Alter von nur 46 Jahren an Tuberkulose.
Arthur Koestler, der von der Franco-Justiz zum Tode verurteilt war und drei Monate in einer Zelle auf seine Hinrichtung wartete, schrieb in seinem Plädoyer gegen die Todesstrafe "Die Rache ist mein":
Würden die Argumente zutreffen, die zugunsten des Galgens als des wirksamsten Abschreckungsmittels geltend gemacht werden, dann müssten öffentliche Hinrichtungen von größtmöglicher Abschreckungswirkung auf den Verbrecher sein. Und doch waren die öffentlichen Hinrichtungen, zu einer Zeit als Taschendiebstahl mit dem Tode bestraft wurde, als die Gelegenheit bekannt, bei denen Taschendiebe die reichste Beute unter den Zuschauern einheimsen konnten.
Glaube niemand, das Grauen sei vorüber. Die Zahl der Hinrichtungen weltweit hat im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Amnesty International dokumentierte nach eigenen Angaben für 2023 mindestens 1.153 Exekutionen in 16 Ländern. Das sei die höchste Zahl gerichtlich angeordneter Hinrichtungen seit 2015, heißt es in dem aktuellen Bericht.