Kampf um "Normalität"
Seite 2: Eine absurde Opferrolle
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Die reaktionäre, in meinen Augen "präfaschistische", Diskursverschiebung der letzten Jahre geht mit dem eingangs erwähnten pseudo-demokratischen Habitus einher, bei den man sich als eine verfolgte Minderheit imaginiert, sobald öffentliche Kritik an den menschenfeindlichen Äußerungen geäußert wird, die man verbreitet. In Talkshows und rechten Zeitungen ertönt dann vor einem Millionenpublikum die Klage, es ließe sich doch nichts mehr sagen.
Diese absurde Opferrolle, die letztendlich darauf abzielt, unter Berufung auf Meinungsfreiheit eine rechte Hegemonie zu errichten, wird inzwischen auf den Begriff einer Verbotskultur, einer "Cancel Culture", gebracht. Der Begriff hat dabei eine Doppelbedeutung: Zum einen soll sich eine politisch korrekte Kultur der Denk-Verbote etabliert haben, die einfache (rechte) Wahrheiten nicht mehr öffentlich zu Wort kommen lasse. Und zugleich ist damit aus rechter Perspektive gemeint, dass Äußerungen der wahren, deutschen Volkskultur nicht mehr möglich seien.
Damit wird unter der ideologischen Parole eines pseudo-demokratischen Kampfes gegen die "Cancel Culture" die tatsächliche gesellschaftliche Bewegung auf den Kopf gestellt: Die jahrelange Rechtsverschiebung des öffentlichen Diskurses, die zunehmende Verrohung erscheint so als ein Kampf für Meinungsfreiheit und gegen eine allmächtige "Verbotskultur" - während tatsächlich die Kritik an rechtsextremistischen Tendenzen der Bundesrepublik, etwa im Zuge der Wahnideologie von Querdenkern, oftmals unterdrückt wird.
Der rechte Zeitgeist nur eine Erfindung?
Für die ideologische Wahrnehmungsverschiebung spricht auch eine Äußerung von Sahra Wagenknecht. Sie bezeichnete jüngst im Focus den "rechten Zeitgeist" als eine bloße Erfindung des "Linksliberalismus". So etwas gebe es laut Wagenknecht nicht, da hierbei Positionen, die "große Teile der Bevölkerung" vertreten, zu "rechten Positionen" erklärt würden, gegen die man dann einen "Kulturkampf" führen könne.
Diese Einschätzung blendet die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre aus - sie geht auf in der üblichen spätkapitalistischen Tendenz zur Verdinglichung des Denkens. Ein Blick auf die letzte Dekade macht indes klar, dass die Rechtsverschiebung in der Bundesrepublik schon sehr weit gediegen ist - während zugleich die Rechte sich über eine "Cancel Culture" empört: Mit der AfD kann inzwischen eine mit Rechtsextremisten durchsetzte Partei zweistellige Wahlergebnisse erzielen.
Der Rechtsterrorismus kostete in den letzten Jahren vielen Menschen das Leben, wobei gerade die Äußerung unbequemer Ansichten sehr schnell zum Mord, Beispiel Walter Lübcke, führen kann - dies ist in meinen Augen die tatsächlich gegebene, rechte "Cancel Culture", die auf die physische Auslöschung des politischen Feindes abzielt.
Von rechts gibt es Warnsignale - von rechten Umtrieben bei Polizei und Militär, von KSK bis USK, Beschwichtigungen zu den gewalttätigen, von manchen als progromartig bezeichneten, Ausschreitungen in Chemnitz. Es ist brandgefährlich. Auch die die Bundeswehr hat mit diesem Sumpf zu tun.
Und zugleich können sich rechte Provokateure oder Akteure der deutschen Querfront unter Verweis auf "Cancel Culture" als die berüchtigte "verfolgte Unschuld" darstellen, die gegen diktatorische "politische Korrektheit" oder einen "linksliberalen Zeitgeist" kämpfe.
Wie weit die rechte Diskurs-Hegemonie auch in der Linkspartei Fuß fassen kann, zeigt sich aktuell an einem im typischen Klartext-Redner-Jargon gehaltenen Statement der Linkspartei Osnabrück-Land. Dort nutzte man angesichts antisemitischer Parolen auf den aktuellen Palästina-Demos die Gelegenheit, um eine Version der "Ausländer raus!"-Rhetorik verbreiten zu können.
Das Statement lässt sich so lesen: Der Antisemitismus in Deutschland - dem Land der Täter des Holocaust, in dem Rechtsextremisten Synagogen angreifen - sei nämlich in Wahrheit aus dem arabischen Raum "importiert", die Ausländer müssten folglich "wieder gehen", ansonsten drohten "Zustände wie in den Pariser Vororten". Letzteres ist ein Topos rechter Rhetorik. Die rechten "Linken" in der Linkspartei verwiesen in diesem Zusammenhang auch auf Interviews mit Frau Wagenknecht.
Der Autor publizierte zu diesem Thema das Telepolis-Ebook "Faschismus im 21. Jahrhundert. Skizzen der drohenden Barbarei."