Kann der westdeutsche Nato-Beitritt Vorbild für die Ukraine sein?

Seite 2: Teilung vs. Neutralität

Auch handelte es sich bei der Trennung Deutschlands um die Aufteilung eines in einem gerechten Krieg besiegten Landes zwischen zwei hegemonialen Mächten. Das heißt, im Grunde waren es Westmächte, die eine vorläufige Trennung des Landes einem geeinten, allerdings neutralen, und damit dem Sowjet-Kommunismus offen gegenüberstehenden Deutschland vorzogen.

Interessanterweise schlug die Ukraine selbst kurz nach der russischen Invasion im Februar 2022 zunächst Neutralität vor.

Westdeutschland trat bereits 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, der Nato bei und genoss so den direkten Schutz des Bündnisses. Eine deutsche Wiedervereinigung rückte durch den Nato-Beitritt der BRD natürlich erst einmal in weite Ferne, wurde später allerdings durch einen Sieg der USA im Kalten Krieg möglich und real.

Der politische Kurs gab einer Politik der Sicherheit immer den Vorrang vor territorialen Ambitionen. Gemeint war selbstredend vorwiegend die Sicherheit vor der "kommunistischen Tyrannei".

Eine Haltung, die von Konrad Adenauer personifiziert und der westdeutschen Bevölkerung unterstützt wurde. Anders als in der Ukraine waren jedoch die nationalistischen Kräfte – bekannt für ihre notorische Unnachgiebigkeit hinsichtlich territorialer Fragen – zu dieser Zeit in Deutschland aus offensichtlichen Gründen jedoch relativ schwach.

Auch an anderer Stelle hinkt der historische Vergleich. Oft wird der Kalte Krieg als Kräftemessen zweier ebenbürtiger, jedoch diametral gegenüberstehenden politischer und wirtschaftlicher Systeme dargestellt. Doch tatsächlich waren es nur die USA, die gestärkt aus dem Krieg mit Deutschland hervorgingen.

Die Sowjetunion hingegen hatte den von Stalin ausgerufenen "Großen Vaterländischen Krieg" nur knapp überlebt. Trotz aller Beteuerungen und Beschwörungen angeblicher Invasionspläne Sowjet-Russlands für Europa, hatte man im Westen primär Angst vor der ideologischen Macht des Kommunismus, von dem 1955 noch viele glaubten, er könne die Welt erobern.

Deshalb machte es aus Sicht des Westens unter US-Führung Sinn, Westdeutschland ideologisch abzusichern und auf den Zusammenbruch der UDSSR zu warten.

Die heutige geopolitische Lage ist jedoch eine andere. Die Rolle der USA als unangefochtener Hegemon steht infrage. Nicht umsonst sicherte sich Putin vor der Invasion bei der echten neuen Macht im Osten ab: China.

Vielleicht ist Putin gerade deshalb der Meinung, im Krieg mit der Ukraine die westliche Bereitschaft zur Unterstützung für Kiew überdauern zu können. Doch auch wenn das westdeutsche Modell vielleicht keine konkrete Schablone für eine mögliche Rolle der Nato in der Beendigung des Ukraine-Kriegs darstellt, die bisherige Politik des Militärbündnisses lässt sich nicht ewig fortführen.

Eine Fortsetzung oder Intensivierung des bisherigen Kurses unter der Leitung der Nato würde bedeuten, die Ukraine mit modernen westlichen Waffen auszustatten, die auch jenseits einer Nato-Mitgliedschaft abschreckend auf Aggressoren wirken können.

Die Lösung orientiert sich an der US-israelischen Sicherheitspolitik, die auch ohne ein direktes Verteidigungsbündnis auskommt. Im Gegensatz zu Israel verfügt die Ukraine aber nicht über besonders abschreckend wirkende Nuklearwaffen.

Auch herrscht die nicht unbegründete Sorge vor, selbst bilaterale Verteidigungszusagen könnten das gesamte Bündnis in den russisch-ukrainischen Konflikt hineinziehen. Weiterhin behauptete Kaja Kallas, die Premierministerin Estlands, anlässlich des bevorstehenden Gipfels, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auch kostengünstiger wäre, als die derzeitige Rolle der Ukraine als militarisierten Pufferstaat gegen Russland aufrechtzuerhalten.

Die Ukraine ist nicht Westdeutschland, Russland nicht die Sowjetunion, und die USA nicht mehr der alleinige Hegemon. Dennoch ist Steven Erlangers Analyse ein wichtiger Beitrag zum Diskurs um den Ukraine-Krieg in den US-Medien, der sich ungeachtet aller Fakten vorwiegend darauf beschränkt, den Glauben an einen Sieg der Ukraine im Westen aufrechtzuerhalten.

Den Menschen in der Ukraine wäre es zu wünschen, dass die Nato, allen voran die USA, auf einen baldigen Waffenstillstand drängt – auch wenn dieser territoriale Verluste bedeutet.

Ob Putin jedoch einen Beitritt der Ukraine zur Nato hinnehmen würde, bleibt fraglich. Denn die Erinnerung an Westdeutschlands Nato-Beitritt weckt in Russland sicherlich andere Erinnerungen als in Brüssel, Washington oder Berlin.