Katzenjammer in Warschau und Prag
Ausgerechnet am 17. September gab Obama bekannt, das Raketenabwehrsystem nicht zu errichten - an dem Tag marschierte vor 70 Jahren die Rote Armee in Polen ein
Am gestrigen Donnerstag hat sich das bestätigt, was sich seit dem Amtsantritt Barack Obamas angedeutet hat. Das von Anfang an umstrittene Raketenschutzschild in Osteuropa wird nicht errichtet. Es ist eine Entscheidung, die in Westeuropa und von Russland, welches sich von dem Projekt bedroht fühlte, begrüßt wird. In Polen und Tschechien, wo die Elemente errichtet werden sollten, stößt die Entscheidung der USA auf geteilte Gefühle. Während die Bevölkerung und einige Teile der Politik die Nachricht mit Erleichterung aufhahmen, fühlen sich konservative Politiker von den USA verraten.
Ausgerechnet den 17. September. Aus Sicht polnischer Konservativer mit den Kaczynski-Zwillingen an der Spitze hätte Barack Obama kein schlimmeres Datum finden können, um seine Entscheidung gegen die Raketenabwehr bekannt zu geben. Am 17. September 1939 marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein und erfüllte somit ihren Teil des Hitler-Stalin-Pakts. Ein Kapitel in der polnisch-russischen Geschichte, welches nicht nur die Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Überfalls auf Polen durch Deutschland belastete (Vorsichtige Annäherung am Kriegsschauplatz), sondern auch in den letzten Tagen das politische Klima in Warschau bestimmte. Noch in dieser Woche drängte die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit darauf, dass der Sejm in einer Resolution die Erschießung von mehreren tausend polnischen Offizieren in dem Wald von Katyn als einen Völkermord bezeichnet. Die Forderung führte im polnischen Parlament zu heftigen Debatten und endete schließlich mit dem Kompromiss, das Massaker von Katyn als ein "Kriegsverbrechen mit Merkmalen eines Völkermordes" einzustufen.
Und nun am 17. September 2009 mussten die polnischen Konservativen aus ihrer Sicht einen weiteren Verrat an Polen erleben, einen ausgerechnet von den USA begangenen Verrat. Von jenem Partner, von dem sich die Konservativen Schutz und Sicherheit vor dem russischen Nachbar erhofften. "Wenn sich das bestätigt, wäre es ein Versagen im langfristigen Denken der USA für diesen Teil Europas", sagte am Donnerstag Aleksander Szczyglo, Direktor des Büros für die nationale Sicherheit, einer dem Präsidenten unterstehenden Behörde. Mit dieser Meinung steht der ehemalige Verteidigungsminister nicht alleine da. Gerade in seiner Amtszeit forcierte die nationalkonservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski die Verhandlungen über das Raketenabwehrsystem mit der damaligen Bush-Administration. Und dies so intensiv, dass Staatspräsident Lech Kaczynski bereits während einer USA-Reise im Sommer 2007 das umstrittene Raketenabwehrsystem als "eine beschlossene Sache" bezeichnete ("Eine beschlossene Sache").
Umso größer ist jetzt die Enttäuschung, die sich nicht nur gegen die neue US-Regierung richtet, sondern auch gegen die von Premierminister Donald Tusk. So warf Präsident Lech Kaczynski der Regierung "schwerwiegende Fehler" bei den Verhandlungen mit den USA vor. Andere PiS-Politiker konkretisierten den Vorwurf. "Das war ein Fehler der Regierung. Es fehlte ihr an Entschlossenheit bei der Realisierung dieses Vorhabens. Man hätte in der Amtszeit der vorherigen amerikanischen Regierung so viel vereinbaren können, wie viel es nur geht, und dieses Projekt abschließen, da die damalige Regierung dazu entschlossen war", erklärte Wladyslaw Stasiak im Fernsehsender TVN 24. "Wenn die Realisierung des Projekts schon fortgeschritten wäre, würde es den Amerikanern schwerer fallen, sich zurückzuziehen", so der Chef der Präsidialkanzlei weiter. Ein Argument, welches auch Aleksander Szczyglo und andere PiS-Politiker wiederholten.
Es blieb aber nicht nur bei diesen Vorwürfen. Sowohl Karol Karski, ehemaliger Vize-Außenminister, als auch mehrere andere namhafte Politiker der nationalkonservativen PiS forderten den Rücktritt der Regierung Tusk. "Falls die Regierung Ehre besitzt, sollte sie zurücktreten", sagte Karski, angeheizt durch den Dauerwahlkampf um die Präsidentschaft, der seit Jahren zwischen Tusk und Kaczynski herrscht, der polnischen Nachrichtenagentur PAP. Seiner Meinung nach wäre es die einzig richtige Konsequenz für diese "diplomatische Niederlage."
Die Regierung lehnte die Forderung erwartungsgemäß ab. "Dass das Raketenschutzschild fraglich ist, war doch schon klar, als Barack Obama die Wahlen gewann", erklärte der PO-Politiker Slawomir Nitras im polnischen Fernsehen und verteidigte das Handeln der jetzigen Regierung, auch wenn auch er der Meinung ist, dass die Raketenabwehr die Sicherheit des Landes erhöht hätte. "Doch die endgültige Entscheidung lag nicht bei uns", so Nitras.
Die polnische Regierung begrüßt die Abkehr vom Raketenabwehrsystem
Seit dem Amtsantritt der Regierung Tusk verfolgte sie eine andere USA-Politik als die Vorgängerregierung. Während Jaroslaw Kaczynski quasi keine Gegenleistungen für die Stationierung US-amerikanischer Raketen auf polnischen Territorium forderte, verlangte Donald Tusk von seinen Verhandlungspartnern nicht nur Sicherheitsgarantien, sondern auch Hilfe bei der Modernisierung der polnischen Streitkräfte. Diese Forderungen brachten im vergangenen Sommer die Verhandlungen fast zum Scheitern (Misstöne zwischen Verbündeten). Erst der russisch-georgische Konflikt vom August 2008 führte auf der außenpolitischen Bühne zu einer Einigung, die zwar unterzeichnet, vom polnischen Parlament jedoch bis heute nicht ratifiziert wurde. Anscheinend wollte Donald Tusk, der die polnische Politik gegenüber Washington allgemein veränderte, die Wahlen in den USA und die daraus resultierenden Veränderungen abwarten. Das hat Barack Obama sicherlich die Entscheidung gegen die Raketenabwehr in Osteuropa erleichtert.
Aber auch wenn die Haltung von Donald Tusk gegenüber der Raketenabwehr kritisch ist, von der gestrigen Entscheidung Obamas war er anscheinend dennoch überrascht. Erst nach einem Telefonat mit Barack Obama, welches am Mittag geführt wurde, und zeitgleich stattfindenden Gesprächen einer US-Delegation mit Vertretern der polnischen Regierung in Warschau, war Tusk bereit, eine Stellungnahme zu der neusten Entwicklung abzugeben. Dabei bestätigte er die Abkehr der USA von der Raketenabwehr in Polen und Tschechien, bezeichnete dies jedoch nicht als eine außenpolitische Niederlage, sondern als einen positiven Fortschritt. In Brüssel, wo er bei einem EU-Gipfel weilte, nannte Tusk die amerikanischen Pläne zur Raketenabwehr für Polen interessanter. Dies auch deshalb, weil Obama Polen an diesem Alternativprogramm beteiligen möchte. "Wir erhalten eine exklusive Position", erklärte Tusk in Brüssel.
Wie diese "exklusive Position" aussehen soll, erklärte später Außenminister Radoslaw Sikorski. "Ein Ergebnis der Gespräche ist die Bestätigung der Amerikaner, dass sie sich an die Vereinbarungen halten werden, was auch die Stationierung von Patriot-Raketen in Polen bedeutet", sagte Außenminister Sikorski auf einer Pressekonferenz in Warschau und betonte, dass diese voll einsatzfähig sein werden. Diese Garantie kommt Polen entgegen, denn gerade das Thema der Patriot-Raketen führte in den letzten Monaten zu einigen Unstimmigkeiten zwischen Warschau und Washington. Die Obama-Administration erklärte sich zwar bereit, diese in Polen zu stationieren, aber ohne jegliche Sprengköpfe (Polen und Obamas kleine und große Raketen).
Mit der neuesten Entwicklung bezüglich des Raketenabwehrsystems ist aber nicht nur die polnische Regierung zufrieden, zumindest äußerlich. Auch die normalerweise gespaltene polnische Linke begrüßte die Entscheidung und bezeichnete diese geschlossen als eine Blamage für die gesamte polnische Rechte. In allen repräsentativen Umfragen spricht sich die Mehrheit der Polen schon seit Jahren gegen die Raketenabwehr aus.
In Polen und der Tschechischen Republik war die Mehrheit der Menschen gegen das Raketenabwehrsystem
Ähnlich ist es auch in der Tschechischen Republik. Dort protestierte von Beginn an die Bevölkerung sowie die parlamentarische Linke gegen das zum Raketenschutzschild dazugehörende Radarsystem, welches auf tschechischem Territorium hätte entstehen sollen. Doch gegen den Willen der Mehrheit drängten die tschechischen Konservativen auf die Teilnahme des Landes an dem umstrittenen Projekt, die sie im Juli vergangenen Jahres auch besiegelten (Russland droht mit militärischen Reaktionen).
Dementsprechend geteilt sind auch die Reaktionen auf die Entscheidung der US-Administration in der tschechischen Hauptstadt. Während der Vorsitzende der tschechischen Sozialdemokraten, Jiri Paroubek, die amerikanische Entscheidung als einen "Sieg des tschechischen Volkes" bezeichnete, ist bei den Vertretern der konservativen OSD eher Katzenjammer angesagt. "Das sind schlechte Nachrichten für die tschechische Republik. Die Errichtung des Raketenabwehrsystem in der Tschechischen Republik und in Polen hätte nicht nur die Sicherheit unseres Landes, sondern auch eines Großteils des Kontinents erhöht", erklärte in Prag der OSD-Politiker und ehemalige Premierminister Mirek Topolanek, der die Verträge mit der Bush-Regierung unterzeichnete, und äußerte die Befürchtung, dass dies negative Folgen auf das amerikanisch-tschechische Verhältnis haben könnte. Eine Befürchtung, die auch andere ehemalige Mitglieder seiner Regierung teilen.
Anderer Meinung ist aber ein anderer namhafter konservativer Politiker und gleichzeitig großer Widersacher Topolaneks. "Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass die Entscheidung der amerikanischen Regierung nicht zu einer Abkühlung in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Tschechischen Republik führen wird", sagte der tschechische Präsident Vaclav Klaus auf einer Pressekonferenz in Prag und erklärte, von der Entscheidung auch nicht überrascht zu sein. "Der Schritt der amerikanischen Regierung ist für niemanden überraschend, der die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen verfolgte." Eine Aussage, mit der sich Vaclav Klaus nicht irrt.