Kern fordert EU-weites Verbot türkischer Wahlkampfveranstaltungen
Der österreichische Bundeskanzler glaubt, dass die Staatsführung in Ankara auf diese Weise weniger Druck ausüben kann
Bezüglich der Türkei herrscht in deutschen Medien derzeit eine ähnlich hysterische Stimmung, wie sie sich in der Vergangenheit zu Putin, Trump und anderen Schnappatmungsthemen entwickelte. Zu dieser differenzierungsverhindernden Dynamik trugen allerdings auch Politiker und Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP bei - zum Beispiel Ministerpräsident Binali Yıldırım, der vor zwei Wochen in Oberhausen dafür warb, dass die Türken im Ruhrgebiet bei dem am 16. April anstehenden Referendum über eine Verfassungsänderung für das Vorhaben seiner Partei stimmen, die Türkei in eine Präsidialrepublik umzuwandeln.
Die acht- bis zehntausend dort versammelten AKP-Anhänger erzeugten mit ihren Allahu-Akbar-und Märtyrer-sterben-nicht-Sprechchören sowie lautstarken Forderungen nach einer Einführung der Todesstrafe nicht nur in der deutschen, sondern auch in der internationalen Presse viel Aufmerksamkeit. Kurz darauf sagten Veranstalter und Behörden in Köln und Gaggenau geplante Veranstaltungen von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci und Justizminister Bekir Bozdag aus Sicherheitsgründen ab. Zeybekci meinte dazu, er werde "die [ihm] befohlene Reise [trotzdem] antreten, und wir sagen, der Sieg ist Allahs" (vgl. Erdoğans Deutschland-Wahlkampf abgesagt?). Der türkische Staatspräsident Erdoğan kritisierte die Absagen als Maßnahmen, die sich nicht von denen der Nationalsozialisten in der deutschen Vergangenheit unterscheiden würden (vgl. Absagen von Wahlkampfauftritten: Erdogan kontert mit Vorwurf von "Nazi-Praktiken").
Veranstaltungen auch in Österreich und den Niederlanden
Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern hat jetzt in der Welt am Sonntag "eine gemeinsame Vorgehensweise der EU [angeregt], um solche Wahlkampfauftritte zu verhindern." Das wäre der Ansicht des Sozialdemokraten nach "sinnvoll, damit nicht einzelne Länder wie Deutschland, in denen Auftritte untersagt werden, unter Druck der Türkei geraten". Außer in Deutschland wirbt die AKP auch in anderen Ländern - darunter Österreich und die Niederlande - für ein "Ja" im Verfassungsreferendum.
"Die Einführung eines Präsidialsystems", für die die AKP-Politiker auf den Veranstaltungen werben, würde dem österreichischen Bundeskanzler zufolge "den Rechtsstaat in der Türkei noch weiter schwächen, die Gewaltenteilung einschränken und den Werten der Europäischen Union widersprechen". Deshalb muss die EU seiner Meinung nach die Beziehungen mit Ankara " ohne die EU-Beitrittsillusion […] neu ausrichten" und "die Beitrittsverhandlungen […] nicht nur vorübergehend aussetzen, sondern beenden", was der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz ablehnt: "Wir können", so Kern, "nicht weiter mit einem Land über eine Mitgliedschaft verhandeln, das sich seit Jahren Schritt für Schritt von demokratischen Standards und rechtsstaatlichen Prinzipien entfernt". Die bis zum Jahr 2020 vorgesehenen 4,5 Milliarden Euro Brüsseler "Vorbeitrittshilfen" könnten seiner Ansicht nach dazu eingesetzt werden, um Druck auf die türkische Staatsführung auszuüben.
Außerdem fordert Kern die Freilassung des umstrittenen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel, der in der Türkei wegen Äußerungen inhaftiert wurde, für die sich im letzten Jahr das Modewort "Hate Speech" etabliert hat, und dem Staatspräsident Erdoğan öffentlich vorwarf, ein deutscher Spion zu sein.
Innerösterreichischer Wettstreit
Kerns Vorschläge sind auch Teil eines innerösterreichischen Wettstreits: Sein Außenminister Sebastian Kurz, der sich in der Vergangenheit als sehr entschiedener Erdoğan-Kritiker präsentierte (vgl. Türkei holt Botschafter aus Österreich nach Ankara und Kurz und Hofer besorgt über Pro-Erdoğan-Demonstrationen in Österreich), würde seine ÖVP der aktuellen ATV-Österreich-Trend-Umfrage nämlich mit 32 Prozent zu stärksten Partei machen, wenn sie mit ihm als Kanzlerkandidaten antritt (vgl. EU-Reform: Juncker vs. Kurz).
Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, der wichtigste innerparteiliche Konkurrent von Kurz, äußerte sich gestern ablehnend zum Vorschlag Kerns. Das begründet er nicht damit, dass eine Einschränkung der Redefreiheit Gefahren verharmlost, weil Positionen nicht mehr ehrlich offenbart, sondern verschleiert werden: Der ÖVP-Politiker hält es vielmehr für "illusorisch", dass Brüssels handelt, bevor der türkische Wahlkampf vorbei ist, und bevorzugt ein Verbot durch seinen Parteifreund und Innenminister Wolfgang Sobotka, der gerade prüft, wie sich Veranstaltungen verhindern lassen, die der Integration schaden.
Auch Norbert Hofer, der Vizechef der FPÖ, warnte, die Hoffnung auf eine Lösung aus Brüssel habe sich schon in der Migrationskrise als trügerisch erwiesen. Er setzt darauf, dass andere EU-Länder von sich aus ein österreichisches Auftrittsverbot für ausländische Wahlkämpfer übernehmen. In seiner Ablehnung solcher Auftritte ist er sich einig mit Alexander van der Bellen, der ihn bei der Bundespräsidentenwahl im letzten Jahr knapp besiegte: Der ehemalige Grünen-Fraktionschef meinte am Freitag zu seinem deutschen Amtskollegen, "Grund- und Freiheitsrechte" seien "nicht für die Macht eines Ministers erkämpft worden, im Ausland Wahlkampf zu machen", und "obwohl 220.000 Österreicher in Deutschland leben, seien die österreichischen Präsidentschaftskandidaten nicht dort aufgetreten, um Stimmen zu werben.
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