"Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm"

Tim Renner, der Aussteiger der Musikindustrie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Ich war dabei (und bin nun endlich weg)" – so hätte der Titel des neuen Buches von Tim Renner durchaus auch lauten können. Doch der einstige Hit von Palais Schaumburg klingt wesentlich prophetischer für den Zustand einer sich selbst am meisten im Weg stehenden Branche

Sein Abgang bei Universal Music machte Schlagzeilen und aus Tim Renners Äußerungen der folgenden Wochen ahnte man, dass Tim Renner die Dinge vielleicht etwas unkonventionell angegangen war. Ja, so mancher hielt ihn immer schon für etwas subversiv. Doch nun packt Tim gnadenlos aus und sagt unzensiert seine Meinung zu der Branche, der er fast 20 Jahre angehörte und die heute ein Image hat, das mit Spaß längst nichts mehr zu tun hat und knapp hinter Rechtsanwälten und Finanzprüfern angesiedelt ist. Das Buch erscheint heute zur in zwei Tagen beginnenden Musikmesse Popkomm. Telepolis wird auf dem Popkomm-Labelcamp als Host vertreten sein und durfte bereits voran darin lesen.

Tim Renner, der musikalische Wallraff

Eigentlich, ja eigentlich trat Tim einst als Untergrund-Reporter, als Musik-Wallraff an. Er wollte in die Plattenkonzerne, um zu recherchieren, was da für Mist gebaut wird. Nach seiner Aussage aus Versehen, aber vielleicht wie bei Ulrich Wickert doch mit Absicht, fand sein Bewerbungsgespräch bei der Polygram unter Drogeneinfluss statt. Wickert trank einst vor dem Bewerbungsgespäch beim Westdeutschen Rundfunk Köln Haschischtee, um die Nerven zu beruhigen und gegen dumme Fragen abzusichern – oder der Konsum des Kiffergetränks brachte ihn überhaupt erst auf die Idee, bei dem Mäusesender anzuheuern, so genau weiß man das heute nicht mehr. Renner hatte dagegen eine Kombination aus Sekt und Heuschnupfenmittel intus, die speed-ähnliche Auswirkungen hatte: Er quatschte seine Gesprächspartner in Grund und Boden, was diese so beeindruckte, dass sie ihn einstellten.

Tim Renner

Nun hatte er das Problem, die ihm vertrauten Independent-Bands unter Vertrag zu bringen, ohne dabei ständig das Gefühl zu haben, sie dem Klassenfeind auszuliefern. Dass sein Chef, der ihn eingestellt hatte, an seinem ersten Arbeitstag das Unternehmen verließ, stärkte das Vertrauen in die Branche auch nicht gerade. Trotz aller Bürokratie und verkrusteter Strukturen konnte er mit seinem Label Motor sich einige erfolgreiche Nischen im Unternehmen aufbauen.

Stadtzeitungen und Fanzines: Das Internet ihrer Zeit

Auch zuvor hatte er oft von der unkonventionellen Art kreativer Individualisten profitiert, wie es sie in jenen Tagen auch noch bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gab: Beatclub und Rockpalast starteten die Bewegung, statt wie "50 Jahre Rock’n Roll im ZDF" aus Rock-Opas Ohrensessel auf sie zurückzusehen. Ebenso starteten fotokopierte Fanzines und Stadtzeitungen den "Journalismus für jeden", bis sie in den "Prinz"-Ketten des Jahreszeiten-Verlags aufgingen, so wie es private Webpages und Blogs heute wieder versuchen und dafür vom Establishment aufgefressen und kaputtgeklagt werden. Auch damals verursachten die für die Fanzines genutzten Fotokopierer und die ebenfalls an Fans vertriebenen selbst kopierten Fanzin-Kassetten für endlose Urheberrechtsdiskussionen, doch mit ihnen kam Punk und Neue Deutsche Welle, nicht mit den Marketing-Ideen der Nadelstreifen-Träger.

Heute dagegen ist das Radio mit Formatuhren und Marktforschung zum Dudelfunk degradiert und während ein Thomas Gottschalk einst die verschlafene Bandabspielerei des Bayrischen Rundfunks einige Jahre durch eine eigene Persönlichkeit ersetzen konnte, dürfen heutige DJs nur noch vorgeplante Witze zu vorprogrammierter Musik abspulen.

Radio: Bei den Privatsendern noch formalisierter als bei den öffentlich-rechtlichen Beamten

Ebenso verlegt die Musikindustrie heute lieber Sampler, "Best of’s", DJ-Kompilations und "Aus der TV-Werbung bekannten Müll", als noch eigene neue Künstler zu fördern. Die Hamburger "edel music", die eben alles andere als edel war, machte hierin den Branchenführer. Und Künstler wie die Ärzte oder die toten Hosen gründeten ihre eigenen Labels, weil sie nicht nur selbst besser wussten, wie sie sich fördern, sondern so auch mehr verdienten – zum Nachteil der Konzerne, die zum reinen Vertriebspartner degradiert wurden.

MTV und VIVA beschleunigten das Geschäft und die Oberflächlichkeit immer mehr – es ging nun noch darum, möglichst schnell in einer Woche viele Platten zu verkaufen, um hoch in die Hitparade zu kommen – für den Gesamtverkauf innerhalb eines Jahres interessierte sich dagegen niemand mehr. Compilations der Art "die schönste Werbemusik" und schließlich die unsäglichen Castingshows waren die logischen, doch grausigen Folgen, aus "Big Brother"-Containerinsassen gezüchtete Pseudostars die Folge.

Sampler: Alte Scheiben in neuen Schachteln

Die digitale Revolution hat die Musikindustrie stets verschlafen und gebremst. Die CD kam ungewollt, doch zum Vorteil der Plattenbosse, die am Ende der Disco-Ära böse Federn hatten lassen müssen, so wie auch zuvor bei jedem Medienwechsel, ob von der Wachswalze zum Radio oder von der Schellack- zur Vinylplatte. Die CD-R konnte man verzögern, mit dem Internet kennen die Manager dagegen nur noch die harte Linie: Bevor man den Musikfans verkauft, was sie möchten, nämlich Musik online ohne Kopierschutz, verklagt man sie lieber.

Bevor Radio, Fernsehen und Medienkonzerne akzeptieren werden, dass die Leute nun lieber direkt miteinander chatten, mailen und sich über Blogs austauschen, statt fernzusehen und passiv zu konsumieren, gehen sie lieber auf dem Rechtsweg gegen alles und jedem im Internet vor. Und MP3, das einst "Farbfernsehen fürs Telefon" sein sollte und das Musikbusiness erleichtern, wurde nur noch bekämpft. Dass der heute erfolgreichste Online-Musikvertrieb Itunes von einem unbeteiligten Dritten, einem Computerhersteller stammt, während die Plattenfirmen bei diesem Thema total zerstritten sind, ist somit kein Wunder.

Vorsicht CD-Kunde! Sofort vergraulen!!

Statt dem Musikfan ein attraktives Produkt zu bieten, wird die CD mit Abspielschutz versehen. Auf Renners Warnungen wollte niemand hören und auf datentauglichen CD-Laufwerken blockieren die UN-CDs dann, beispielsweise auf DVD-Spielern, Computern oder auch den teureren Mercedes-Benz-Autoradios, deren CD-Laufwerke nicht nur Musik abspielen, sondern auch die CD-ROM-Updates für das Navigationssystem entgegen nehmen. Und dann heißt es von Seiten der IFPI nur: "Na da müssen Sie halt Ihre veraltete Hardware austauschen – beim Computer kaufen Sie sich doch auch alle 2 Jahre ein neues Modell". Nur dass das Autoradio im brandneuen Benz sich ebenso an der Un-CD verschlucken wird wie das im zwei Jahre alten und somit nach Ansicht der Musikbranche völlig überholten Modell und Papi an eine Verschwörung des Nachwuchses glaubt, wenn seine legal erworbene Rosenstolz- oder Philip-Boa-CD streikt und die Britney-Spears-Scheiben der Töchter spielen, die – nicht unbedingt musikalisch, aber technisch – schlauer sind und ihre Musik gleich illegal aus dem Internet geladen haben.

Ab Mitte 2003 griff Tim Renners Plattenfirma Universal deshalb in die Trickkiste: Sie druckte weiterhin die Kopierschutz-Kennzeichnung auf die Scheiben, baute aber keinen Kopierschutz mehr ein. Wer bereits gebranntes Abspielschutz-Kind war, ließ die CDs also wie gewünscht brav weiterhin im Laden stehen, aber die Universal sparte sich die teuren Lizenzen für Cactus Data Shield, Macrovision & Co. Erst ein Jahr später gab die Universal dies auch offiziell bekannt. Die Porno-Branche ist viel schlauer, so Renner: Diese benutzen keinen Kopierschutz, sondern sehen einzelne in Kazaa & Co. herumgeisternde Ausschnitte ihrer Filme als Werbung an, die dazu führt, sich das Produkt genauer anzuschauen.

Von Musik-Talentschuppen zu Schreckschrauben-Castings

Wurden einmal kreative Ideen übernommen, wie die Internet-Talentbörse "Jimmy and Doug’s Farmclub", ein Vorläufer heutiger Projekte wie der Soundgarage von Antenne Bayern, so gingen diese an Dotcom-Orgien und Dotcom-Kater jämmerlich ein und legale Download-Angebote der Plattenindustrie versuchten immer wieder, zu höherem Preis weniger zu bieten als die CD statt genau umgekehrt. Andere derartige Talentseiten gingen an einem Überangebot mittelmäßiger und beliebiger Musik zugrunde, in der sich die Diamanten nicht mehr finden ließen und schließlich blieben nur noch "Deutschland sucht den Superdoofi"-Castings.

Auch wundert sich Renner über die Ignoranz beim digitalen Radio: DAB und DRM werden von der ARD ausgebremst und auch das Internet wird nur als Möglichkeit gesehen, noch mehr Gebühren zu kassieren (Politik und Fernsehen: DDR im Himmel und GEZ fürs Internet), während die englische BBC, die ja nicht gerade als jungdynamischer Kreativtrupp gilt, mit DAB und Internet vielgelobte neue Projekte aufsetzt. Ebenso gibt es im deutschen Privatfunk von all den möglichen Musikrichtungen immer nur wieder AC (Adult Contemporary): Während es in den USA 46 Radiosender pro Million Einwohner gibt, in Frankreich 31 und in Italien 28, finden sich in Deutschland gerade 3,6 Stationen auf eine Million Hörer – das Vorherrschen von Dudel-Einheitsfunk (Stoppt den Dudel!) ist also kein Wunder und das, wo das Radio trotzdem noch mehr genutzt wird als das Fernsehen.

Einheitsbrei im Radio, Abzocke am Handy

Kaum erweist sich allerdings eine Musiknutzung als irgendwie lukrativ, wie der Verkauf überteuerter Handylogos und Klingeltöne an Teenager, so mauert die Musikbranche wieder nach allen Seiten: Die Künstler bekommen vom "Klingelgeld" nichts und neue Handys, die mit eigenen Tönen und direkten MP3s von der CD oder aus dem Netz bespielt werden können, wie das Nokia 3300, werden boykottiert. Und dabei existiert das Urheberrecht für Musik erst seit 1847, als der Chanson-Komponist Ernest Bourget sich darüber ärgerte, dass seine Kompositionen in jedem Café gespielt wurden, ohne dass er etwas davon hatte, doch man ihn dafür nicht ebenso gratis bedienen wollte.

Am 31. Januar 2004 ließ Tim Renner Universal schließlich hinter sich. Natürlich kann es sein, dass ihm die Phantasie bei mancher Anekdote mal etwas durchgegangen ist. Auch wenn es um Funktechnik geht, ist er mit Frequenzangaben in "Mittelhertz" nicht immer technisch sattelfest, was bis zum endgültigen druck hoffentlich behoben ist. Doch insgesamt ist seine Story schlüssig und vor zu krassen Ausschmückungen hat ihn sicher die langjährige Erfahrung mit den Bewahrern des Alten, Schlechten der Branche, den Juristen, abgehalten.

Nepper, Schlepper, Bauernfänger

Man erfährt in "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm" Anekdoten aus einem ganzen Jahrhundert Plattenindustrie und gewinnt das Gefühl, dass "Management by Zufall" und "Nieten in Nadelstreifen" in dieser Branche noch weit häufiger vertreten sind als in der wesentlich kurzlebigeren "New Economy" – die Musikbranche ist sozusagen das Dotcom der Old Economy und der deutlichste Niedergang startete auch hier mit einem Börsengang. Danach kamen Analysten, Käufe und Verkäufe, Merger und immer wieder Entlassungen: Je mehr Mitarbeiter man feuert, desto größer das Geschäft und am besten macht man den Laden ganz zu, statt etwas aufzubauen, so die Botschaft der Berater und Analysten.

Tim Renner: "Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!"
Über die Zukunft der Musik- und Medienindustrie, Campus 2004, 303 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 3-593-37636-9