"Maidan-Helden" wittern Verrat

Bei Protesten von Ultranationalisten gegen die Dezentralisierung der Ukraine starben in Kiew drei Menschen. Regierungslager ringt um Stimmen für zweite Lesung der umstrittenen Verfassungsänderung

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Am Montag wurden bei den Angriffen hunderter Ultra-Nationalisten auf Soldaten des Innenministeriums und Mitglieder der Nationalgarde, welche das ukrainische Parlament schützten, zwei Nationalgardisten und ein Jugendlicher getötet. 120 Mitglieder der Sicherheitskräfte wurden verletzt.

Screenshot aus dem YouTube-Video

Auslöser der gewalttägigen Angriffe vor und der Tumulte im Parlament war die Verfassungsänderung zur Dezentralisierung der Ukraine, welche die Werchowna Rada am Montag in der ersten Lesung mit 265 Stimmen - bei 368 registrierten Abgeordneten - billigte. 226 Stimmen für die Verfassungsänderung waren in der ersten Lesung nötig gewesen. 38 Abgeordnete des Russland-freundlichen "Oppositionsblockes" kamen Präsident Poroschenko zu Hilfe und stimmten für die Verfassungsänderung. Im Oppositionsblock haben sich ehemalige Mitglieder der von ex-Präsident Viktor Janukowitsch geführten Partei der Regionen zusammengeschlossen (Ukraine: Militante Nationalisten proben den Aufstand).

Für die zweite Lesung braucht das Regierungslager 300 Stimmen, was nicht einfach wird, denn im Parlament hat sich eine starke ultra-nationalistische Opposition gebildet, die mit 72 Stimmen gegen die Verfassungsänderung stimmte. Zur neuen Opposition gehören auch Parteien, die bisher zur Regierungskoalition gehörten, wie Julia Timoschenkos Partei Vaterland und die rechtsnationale Partei Samopomitsch. Zur Opposition gehören außerdem die Radikale Partei von Oleh Ljaschko sowie Abgeordnete des Rechten Sektors, die als Direktkandidaten ins Parlament gelangten. Gegen die Verfassungsänderung stimmten sogar sechs Abgeordnete der Regierungsparteien "Block Petro Poroschenko" und "Volksfront", die von Arseni Jazenjuk geführt wird.

Die blutigen Auseinandersetzungen vor dem ukrainischen Parlament am Montag zeigen, dass die Macht von Präsident Poroschenko auf wackeligen Beinen steht. Das Lager der ehemaligen Opposition gegen den Präsidenten Viktor Janukowitsch ist tief gespalten und verfeindet.

In Russland gibt es allerdings Stimmen, die meinen, was in Kiew passiere, sei ein abgekartetes Spiel. Der ukrainische Präsident Poroschenko könne sich gegenüber dem Westen nun endlich als "Anti-Nazist" profilieren ohne seine Russland-feindliche Politik zu ändern, meint etwa der bekannte russische Kommentator Vitali Tretjakow. Der Kommentator gibt auch zu bedenken, dass Poroschenko zur Sicherung seiner Macht auf die Ultra-Nationalisten und Rechtsradikalen angewiesen sei.

Swoboda-Parteiführer Tjagnibok schaut ruhig zu, wie vor der Rada ein Nationalgardist gelyncht wird. Bild: Korrespondent.net

Die Partei Swoboda (Freiheit), die mit den ultra-nationalistischen und rechtsradikalen Parteien, Ukrop, Radikale Partei und Rechter Sektor, zu den Protesten gegen eine Dezentralisierung der Ukraine vor der Werchowna Rada mobilisiert hatte, kämpfte während der Maidan-Proteste im Winter 2013/14 noch zusammen mit Petro Poroschenko, Arseni Janzenjuk und Vitali Klitschko in einer Front gegen den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch, der das EU-Assoziierungsabkommen nicht unterschreiben wollte und gegen eine einseitige Hinwendung zur Nato war.

Für den Einsatz von Swoboda-Militanten gegen die ukrainische Sicherheitskräften (westliche Medien sprachen von den "Schergen des Regimes") wurde die Partei Swoboda im Februar 2014, in der ersten Regierung nach dem Staatsstreich, mit hohen Posten (Vizepremier, Generalstaatsanwalt, Landwirtschaftsminister) belohnt. Parubij, ein Mitglied der Swoboda-Vorläuferorganisation Sozialnationale Partei der Ukraine wurde Leiter des ukrainischen Sicherheitsrates.

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kündigte am Montagabend bei einer Sitzung mit Vertretern der Sicherheitsorgane und des Parlaments an, es werden harte Konsequenzen, nicht nur für die Organisatoren der gewalttätigen Ausschreitungen, sondern auch für die politischen Kräfte geben, die hinter den Protesten stehen. Damit war auch der Führer der Partei Swoboda, Oleh Tjagnibok, gemeint, der während der Auseinandersetzungen unter den Demonstranten stand und - wie ein Foto zeigt -, ruhig zusah, wie Demonstranten einen Soldaten des Innenministeriums in die Menge zog und lynchten.

Sorge um "internationales Pro-Ukraine-Bündnis"

In einer Fernsehansprache verurteilte Poroschenko die Angriffe der Demonstranten vor dem Parlament als "antiukrainische Aktion" für welche "alle Organisatoren und politischen Kräfte, ohne Ausnahme" zur "harten Verantwortung" gezogen werden. Der Präsident verurteilte auch die Abgeordneten der ultra-nationalistischen Opposition, die im Parlament die Tribüne blockiert und Tumulte inszeniert hatte, als "verantwortungslos und zynisch".

Wenn die Werchowna Rada nicht für die Verfassungsänderung gestimmt hätte, dann, so Poroschenko, wäre "die internationale proukrainische Koalition in Gefahr gewesen", dann wäre "die Frage der Verlängerung der Sanktionen, welche dem Aggressor (gemeint ist Russland, U.H.) sehr weh tun, von der Tagesordnung verschwunden". Es hätte die Gefahr bestanden, dass die Ukraine "dem Aggressor ganz alleine gegenübersteht".

Präsident Poroschenko besuchte die bei den Protesten verletzten Polizisten. Bild: president.gov.ua

Poroschenko drückte sein Bedauern aus, dass ein Teil der Abgeordneten aus der (Regierungs-) Koalition, "anstatt ihre brodelnde Energie gegen den äußeren Feind zu wenden", den Präsidenten "und unsere engsten Verbündeten, die USA, Deutschland, Frankreich und die EU angreifen". Er sage nicht, dass es sich bei diesen Abgeordneten um "Agenten Moskaus" handele, aber sie nähmen eine für das Land "gefährliche" Position ein. Einige Abgeordnete hätten nur den 25. Oktober im Sinn. An diesem Tag sollen in der Ukraine Kommunalwahlen stattfinden. Damit spielte Poroschenko auf die Profilierungssucht der Ultra-Nationalisten und Rechtsradikalen an, welche die Regierung als noch härtere Patrioten und Russland-Feinde übertrumpfen wollen.

Die "Adler von Awakow" gegen die "Swoboda-Helden"

Die Proteste der Demonstranten am Montag zeigen, dass der im Winter 2014/15 begonnene Aufstand des Maidan noch nicht zu Ende ist. Sie zeigen auch, dass die Militanz der nationalistischen Demonstranten durch den Krieg in der Ost-Ukraine noch zugenommen hat Ukraine: Militante Nationalisten proben den Aufstand.

Da ist zum Beispiel das Swoboda-Mitglied Igor Gumenjuk. Dieser Aktivist kam zur Demonstration vor dem Parlament mit zwei Granaten direkt von der Front in der Ost-Ukraine, wo er im Freiwilligen-Bataillon "Sitsch" dient. Gumenjuk, der Urlaub genommen hatte, wurde verhaftet, nachdem er eine Granate in die Reihen der Polizei geschleudert und einen Nationalgardisten getötet hatte. Eine zweite Granate trug er bei seiner Verhaftung noch bei sich.

Wie Innenminister Arsen Awakow mitteilte, wurden am Montag 30 Demonstranten verhaftet. Awakow schimpfte, "Tjagnibok (Führer der Partei Swoboda) hat keine Protestierenden vor die Werchowna Rada gebracht, er brachte Banditen, welche unsere Soldaten (gemeint waren die Soldaten des Innenministeriums und die Nationalgardisten vor dem Parlament) töteten und verletzten." Tjagnibok rechtfertigte sich auf Facebook. "Das Gedränge begann, nachdem die "Adler von Awakow" (gemeint sind die Nationalgardisten, U.H.) zum Angriff übergingen, und auf den Porträt-Fotos der Swoboda-Helden, die an der Front fielen, herumtrampelten."

Das Lager der Nationalisten ist gespalten

Eineinhalb Jahre nach dem gewaltsamen Sturz des gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch durch die Maidan-Demonstranten in Kiew, steckt der neue Präsident, Petro Poroschenko, in einer ernsten Klemme. Die radikalen Nationalisten und Rechtsradikalen, die im Februar 2014 eine führende Rolle beim Sturz der Moskau-freundlichen Regierung spielten, stellen sich dem Poroschenko nun mit Gewalt in den Weg.

Sie haben sich im Kampf gegen die Separatisten in der Ost-Ukraine "gestählt" und sehen sich als das Gewissen der Nation gegenüber einer "anti-nationalen" Regierung, die angeblich nach der Pfeife von Moskau, Brüssel und Washington tanzt. Bisher sieht es nicht so aus, als ob Poroschenko diese Geister, deren politische Vorbilder, während des Zweiten Weltkrieges an der Seite der Hitler-Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpften, jemals wieder los wird.

Ukrainischer Nationalismus: Nichts gehört - nichts gesehen

Dem Westen scheinen die Proteste der Ultranationalisten in Kiew peinlich. Medien und Politiker meiden das Thema und bekunden dafür umso lauter ihre Freude über die vom Parlament in erster Lesung beschlossene Verfassungsänderung zur Dezentralisierung der Ukraine. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Mark Toner, erklärte, "wir begrüßen die Annahme der Änderungen der ukrainischen Verfassung, welche die Dezentralisierung der Ukraine zum Ziel haben." Die Änderungen würden helfen, den Konflikt im Donbass zu regulieren. Aus dem deutschen Außenministerium hieß es:

Wir verurteilen die blutigen Ausschreitungen, die heute vor dem Parlament in Kiew stattgefunden haben, in aller Deutlichkeit. Gewalt auf der Straße ist in jeder Hinsicht inakzeptabel - Gewalt gegen Beschlüsse eines demokratisch gewählten Parlaments umso mehr. Es ist gut, dass die Gewalttäter ihr Ziel nicht erreicht haben und das ukrainische Parlament heute mit der Billigung der geplanten Verfassungsreform in erster Lesung einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Dezentralisierung und zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen gemacht hat.: Auswärtiges Amt

Die Gewalttäter vom Montag, "die ihre Ziel nicht erreicht haben", waren exakt die gleichen, über welche deutsche Medien und Politiker im Februar 2014 noch mit viel Verständnis berichtet hatten. Ukrainische Ultra-Nationalisten und Rechtsradikale, die sich bei der Erstürmung von Polizeidienststellen in Lwiw (Lemberg) mit Waffen versorgt hatten, schlugen am 21. Februar 2014 den gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch in die Flucht. In den Augen westlicher Politiker war er ein Bremsklotz bei der EU-Osterweiterung.

Dass es Rechtsradikale und Ultranationalisten waren, die Janukowitsch auf dem Maidan am 21. Februar 2014 das Ultimatum stellten, er müsse bis zum nächsten Morgen zehn Uhr "die Stadt verlassen", sonst "werde man die Präsidialverwaltung stürmen", wurde von westlichen Politikern und Medien damals kleingeredet oder verschwiegen.

Ultra-Nationalisten sollten sich an der Ost-Front "austoben"

Die Regierung in Kiew hatte gehofft, dass sich die Nationalisten und Rechtsradikalen im Kampf gegen die Separatisten in der Ost-Ukraine "austoben" und ihnen der Traum einer "nationalen Revolution" vergeht.

Das Ergebnis der Parlamentswahlen vom Oktober 2014 nährte diese Hoffnung. Die Partei Swoboda erreichte nur 4,7 der Rechte Sektor nur 1,8 Prozent der Wählerstimmen. Der Grund für das Abschmieren der Ultra-Nationalisten bei den Parlamentswahlen war, dass die großen Parteien "Block Petro Poroschenko" und "Volksfront" von Arseni Jazenjuk, die anti-russische Rhetorik der Ultranationalisten übernommen hatten. Dadurch wurden die Parteien Swoboda und Rechter Sektor schlicht überflüssig. Nun haben die Ultra-Nationalisten mit der Dezentralisierung ein Thema entdeckt, über das sie hoffen, sich erneut profilieren zu können.

Die Ereignisse vom Montag zeigen, dass das Einschmelzen der Ultra-Nationalisten in das Regierungslager nicht gelungen ist. In den vergangenen Monaten hatten es bereits Anzeichen dafür gegeben, dass sich die Partei Swoboda nach ihrer Wahl-Niederlage vom Oktober 2014 als "nationale Kraft der Straße" neu positioniert. Am 6. Dezember 2014 stürmten 600 Demonstranten unter den Fahnen der Swoboda-Partei in Vinnytsia, der Heimatstadt von Petro Poroschenko, eine Sitzung des Gebietsrates und wählten unter freiem Himmel einen "Volksgouverneur" (Aufruhr in Poroschenkos Heimatstadt). Mitte Juli dieses Jahres lieferte sich eine gut ausgerüstete Einheit des Rechten im ukrainischen Städten Mukatschewo, 40 Kilometer vor der ungarischen Grenze, Feuergefechte mit Polizisten und Schmugglern, die ihre Einnahmen nicht teilen wollten (Rechter Sektor probt den Aufstand in der Westukraine).

Vermutlich bekommen die Ultra-Nationalisten von der Partei Swoboda auch weiterhin Hilfe von ukrainischen Oligarchen, die fürchten, dass Petro Poroschenko ihre wirtschaftlichen und politischen Einflussbereiche beschneidet. Zu nennen wäre hier an erster Stelle der Oligarch Igor Kolomoiski, 2014 noch einer der Hauptsponsoren von Swoboda. Ob Kolomoiski, der Ende März von Poroschenko als Gouverneur von Dnjepropetrowsk abgesetzt wurde Will der ukrainische Oligarch Kolomoiski nun auch eine "Republik"?, die rechtsradikale Partei immer noch finanziell unterstützt, ist unklar.

Durch die vom ukrainischen Parlament beschlossene "Dezentralisierung" sehen die hartgesottenen Radikalen alles in Gefahr, wofür sie die letzten zwei Jahr hart gekämpft haben. In Anspielung auf die "Volksrepubliken" im Osten der Ukraine behauptete am Montag einer der nationalistischen Redner vor der Werchowna Rada, es werde nun "zwei Territorien, zwei Armeen und zwei Budgets" in der Ukraine geben. Die Menge rief trotzig "Tod den Feinden! Es lebe die Nation!"

Parlamentspräsident: Dezentralisierung erst nach der "Befreiung"

Dabei hatte Petro Poroschenko mit den von ihm eingebrachten Verfassungsänderungen, gar nicht die Preisgabe der aufständischen Gebiete in der Ost-Ukraine im Sinn. Im Gegenteil. Mit der Verfassungsreform will er die präsidiale Macht in der Ukraine durch Vertreter des Präsidenten in den Regionen stärken. Dadurch soll eine "Parade der Souveränitäten", also Sonderrechte auch für Regionen verhindert werden (Poroschenkos Spiel mit dem Minsker Abkommen).

Auch das Gebiet Saparoschje im Zentrum der Ukraine hatte mehr Selbstständigkeit gefordert. Was man den aufständischen Gebieten Lugansk und Donezk "nach der Befreiung" (Parlamentspräsident Volodymyr Groysman gestern in der Rada) an Selbstständigkeit zugestehen will, soll in einem Extra-Gesetz geregelt werden. Jegliche direkte Verhandlung mit den Separatisten in der Ost-Ukraine über die Durchführung von Wahlen und die Form der Selbstständigkeit, wie es das Abkommen von Minsk fordert, lehnt Präsident Poroschenko ab. Wahlen in den "von Russland okkupierten Gebieten" sollen nach den Gesetzen der Ukraine stattfinden. Punkt.

Weil Donezk und Lugansk in Kiew keine Verhandlungsbereitschaft erkennen, haben sie nun für den 18. Oktober selbstorganisierte Kommunalwahlen angesetzt.