Marx ist Murks - Teil 1

Seite 4: Einwand 4: So einen Kapitalismus gibt es nicht

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Ein mehrmals wiederholter Vorwurf gegen Marx besteht in der Behauptung, dass es solch einen Kapitalismus gar nicht gibt. Marx würde den Kapitalismus ganz ohne den Staat beschreiben, dabei sei der Staat doch in ökonomischen Fragestellungen die entscheidende Kraft, weil er die Märkte, die unter seiner Kontrolle sind, maßgeblich mitgestaltet: "In vom Marx diskutierten Kapitalismus ist der Staat dagegen nur ein passiver Zuschauer. Und das ist eine reine Fiktion, von der man längst erkannt hat, dass sie nicht funktioniert." (Forent "K3")

An anderer Stelle präzisiert er diesen Vorwurf: "Der Staat greift an tausend Stellen ein, um Standards herzustellen und eine Versorgung sicherzustellen. Der […] Umweltschutz zählt dazu. Der reine Kapitalismus, wie ihn Marx beschrieben hat, gibt es in keinem Land der Welt. Wer suggeriert, dass dies unsere Realität sei, um daraus anschließend politische Forderungen abzuleiten, der baut einen Popanz auf und führt die Leute hinter die Fichte." (Forent "K3")

Und er ergänzt in einem anderen Post: "Individuelle Vertragsfreiheiten werden eingeschränkt. Das wurden sie schon immer. Sei froh. Sonst müsstest du selbst mit deinem Arbeitgeber über solche Nickeligkeiten wie Urlaubsansprüche oder geregelte Arbeitszeiten verhandeln. Du müsstest selbst kontrollieren, ob die Lebensmittel, die bei Edeka im Regal stehen, auch nach allgemein üblichen Hygienestandards kontrolliert werden. Nur weil in die Vertragsfreiheit eingegriffen wird, darf Dir Edeka gar nichts anderes anbieten. Sonst würde man ihnen den Laden dicht machen." (Forent "K3")

Zunächst die Einlassung: Der Forent hat insofern recht, als dass es diese Wächter- und Richterleistungen des Staates wirklich gibt. Er gibt damit aber wiederum unfreiwillig zu, dass die rein ökonomische Seite des Kapitalismus all dies von sich aus eben nicht leistet. Ginge es nur nach dem Kapital. Das Kapital geht sogar so weit, dass es von sich aus die Basis seiner eigenen Reichtumsvermehrung unterminiert. Indem es die Arbeiter bis hin zur Vernichtung3 verschleißt und die Natur über die Maßen4 strapaziert, dass es die Basis des eigenen Geschäfts untergräbt. Als glänzende Beispiele zu nennen wären der Dammbruch von Brumadinho/Brasilien, der Fabrikeinsturz in Bangladesch, die Katastrophe von Bhopal, die Verseuchung der Bürger von Minamata, die Ölpest von Norilsk, die allesamt nicht bloß menschliches Versagen, sondern Resultat eines strengen, durch die Konkurrenz und die beschränkten Mittel aufgezwungenen Sparregimes waren.

Natürlich muss der Staat eingreifen, weil das Kapital es von sich aus eben nicht tut. Nicht etwa weil es sich bei Kapitalisten notwendig um bösartige Menschen handelt, nein sie müssen an Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen sparen, wo sie nur können, weil es Kosten sind, die ihnen bei Strafe des eigenen Untergangs in der weltweiten Konkurrenz ein Wettbewerbsvorteil sichern.

Marx kennt sehr wohl den Staat als Player, er charakterisiert ihn als den "ideellen Gesamtkapitalisten" und erklärt damit auch die Kriterien, nach denen er eingreift: als Retter des Geschäfts. Gerade indem er den Kapitalisten unter seinem Zugriff Schranken setzt, sorgt er dafür, dass so das Buisness auf Dauer gestellt werden kann, wovon er ja für seinem Staatshaushalt auch selbst etwas hat. Er hat neben ökonomischen auch andere Gründe, seine Bürger nicht dem Verschleiß anheimfallen zu lassen. Er braucht sie nämlich noch in anderer Funktion: als Wähler, d.h. als Garanten seiner Legitimation; als Soldaten, d.h. als kraftvolle Verteidiger seiner Interessen im Ausland; als Erzeuger und Erzieher seiner Machtbasis, des Volks usw. Es ist also keineswegs so, dass der Staat der Gegenspieler des Kapitals ist, was vielen Linken, besonders in der parlamentarischen Opposition, nicht so recht bewusst zu sein scheint, oder einfach ignoriert wird.

Und wie geht das Kapital mit staatlichen Beschränkungen um? Ganz unterschiedlich. Manchmal fordert es sie sogar selbst ein, meist in der Form, dass es unfaire Methoden bei der Konkurrenz anprangert, die schnellstmöglich allgemein geregelt, also verboten gehören. Dann gibt es auch die Verlaufsform, dass es mit der Strafe bewusst kalkuliert. Die Rechnung geht einfach: Was ist der potentielle Gewinn, falls das Geschäft gelingt? Wie hoch ist die Strafe, falls man bei einem Regelverstoß erwischt wird? Die Differenz dieser beiden Größen, gibt dann Auskunft darüber, ob sich ein solches Wagnis lohnt oder nicht. Dazu ein Zitat von dem englischen Gewerkschafter Dunning, einem Zeitgenosse Marxens:

Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.

Thomas Joseph Dunning

Da nicht jeder Beschiss auffliegt, ist - in dubio pro reo - in der Regel davon auszugehen, dass das Kapital die staatlichen Beschränkungen akzeptiert und selbst zum Wächter der Regeln wird - wie schon gesagt: bei der Konkurrenz. Ein effizienter Staat kontrolliert nicht aus eigenem Antrieb. Dafür hat er ein Reklamationssystem eingerichtet. In Deutschland heißt dieses Regelwerk BGB, das Bürgerliche Gesetzbuch. Wo keine Klage, da auch kein Verbrechen. Es besteht aus vielen Bänden und noch mehr Kommentaren und zeugt - nebst seinen prachtvollen Institutionen, vor allem das Justiz- und Polizeiweisen etc. - allein schon dadurch davon, dass es in einem kapitalistischen Staatswesen offenbar viel Ordnungs- und Regelungsbedarf gibt. Von sich aus regelt sich da gar nichts.

In der Funktion des Geschäfteretters kann der Staat auch ganz umgekehrt auf die Bühne treten, nicht als Beschränker, sondern als Ermöglicher, indem er fleißig Subventionen verteilt. Manche Branchen sind einfach so kostenintensiv, dass es zunächst nichts geringeres als einen Staatshaushalt braucht, um die Anschubfinanzierung zu gewährleisten. Alles, was mit Infrastruktur und Energiefragen zu tun hat, ist zunächst als ein Großprojekt des Staates in die Welt gekommen, oder wurde von diesem maßgeblich co-finanziert. Post, Internet und Telefonnetz, AKW-Betrieb, der Bahnverkehr, der Straßen-, Brücken-, Hafen- und Tunnelbau, das Gesundheits- und Bildungswesen und ein Großteil der Forschung in Form einer Universitätslandschaft, das Raumfahrtprogramm etc. Von sich aus hätte das Kapital zu Zeiten, als es drauf ankam, nichts unternommen, zu risikoreich, zu teuer. Wer soll das bezahlen?

Erst danach wurden Sektoren, in denen sich damit ein profitliches Geschäft machen lässt, folgerichtig privatisiert. Der bürgerliche Staat ist schließlich der Inbegriff des Gedankens, dass das Kapital ohnehin alles am besten regelt, also ist es nur naheliegend, nach und nach ein ertragliches Buisness aus diesen Branchen zu machen. Ganz trauen tut zumindest der deutsche Staat dem Braten aber dann doch nicht. Insofern versucht er eine Versorgungsleistung, die das Kapital mangels Rentabilität von sich aus nicht mehr gewährleisten würde, noch dadurch zu garantieren, dass er sich weiterhin eine Geschäftsbeteiligung in einer knappen Mehrheit an der jeweils neu entstandenen Unternehmungen vorbehält.

Von sich aus würde das Kapital viele Versorgungsleistungen radikal durchstreichen: Abbau von Krankenhäusern, Stilllegung von Schienen, Streichung von gewissen Dienstleistungen usw. In USA ging der Zirkus sogar so weit, dass das Kapital bewusst die Infrastruktur sabotierte. Die Autoindustrie kaufte sich städtische Verkehrsbetreiber auf und ruinierte sie ganz bewusst, um darüber ihr Autogeschäft anzukurbeln.

Marx hat schon ganz recht getan, den Staat aus seiner Analyse so weit es geht herauszuhalten. Das ist auch vollkommen logisch. Man muss in einer Analyse ja erst einmal die (destruktive) Eigendynamik des Kapitals verstehen, bevor man überhaupt erkennen kann, was an Regelungsbedarf und sonstiger Hilfestellung überhaupt alles so anfällt. Und das ist tatsächlich von Staat zu Staat völlig anders, da überall unterschiedliche Bedingungen vorliegen. In den sogenannten "Entwicklungsländern" - ein euphemistischer Begriff, weil dort fast gar nichts entwickelt wird -, sind die Machtmittel über die der Staat via Haushalt verfügt ganz andere. Diese sind so abgehängt in der internationalen Staatenkonkurrenz, dass sie sich anderweitig als über ihr bescheidenes Produktionsniveau lukrativ machen müssen, um Kapital an ihren Standort anzuziehen. Dann wird auch schon mal auf den Arbeitsschutz gänzlich verzichtet, zumal ohnehin die Mittel fehlen, um ihn zu kontrollieren.

Marx kennt all diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Staaten und ihren besonderen Gegebenheiten (Stichwort: "moralisches Element" der kapitalistischen Produktion). Deshalb hat der Kapitalismus in verschiedenen Ländern unterschiedliche Verlaufsformen, weil jeweils unterschiedlicher Betreuungsbedarf ansteht und die staatlichen Durchsetzungsmittel sich von Staat zu Staat unterscheiden.

Marx selbst wollte die Rolle des Staates in späteren Werken explizieren. Stellenweise hat er das in seinem Briefverkehr getan. Da er verstarb, bevor er dieses Projekt angehen konnte, war es an der marxistischen Nachwelt, dies zu Ende zu führen. Es gab unter Marxisten in den 1970er Jahre eine "Staatsableitungsdebatte", die sich genau mit dieser Frage befasste. Dies wurde von der "Marxistischen Gruppe" (Eigenname), einem bundesweiten Autorenkollektiv letztlich auch geleistet, jedenfalls zu meiner Zufriedenheit.

Zuletzt möchte ich gegen den Forenten "K3"5 noch einwenden, dass auch im Kapital (Band 1) der Staat an mehreren Stellen, so weit unbedingt nötig für die Analyse, in exponierter Rolle vorkommt. Als Garant des Eigentums und des Vertrags (Kap. 2), als Garant des Geldes (Kap. 3), als Regler des Klassengegensatzes (Kap. 8) und an etlichen anderen Stellen mehr.

Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?

Marx im Kapital, Band 1

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