Massengewalt, Kriegsverbrechen oder Genozid: Ist das Label so wichtig?

Seite 3: Nicht jede Massengewalt ist ein Genozid

Die Definition "Genozid", die gezielte Vernichtung von Gruppen, erfuhr eine Bedeutungserweiterung. Jenseits der physischen Vernichtung bezeichnet "Kultureller Genozid" absichtsvolles Handeln, durch das die Unterdrückung der Sprache, der Religion, durch Landnahme und wirtschaftliche Ausbeutung die kulturelle Identität einer bestimmten (ethnischen) Gruppe zerstört und repressiv eine neue oktroyiert wird. Die Übergänge zur Zwangsassimilation sind fließend. Dabei bleiben die Betroffenen am Leben, werden aber massiv unterdrückt.

Geografisch näher liegende Massaker scheinen in der Öffentlichkeit größere Betroffenheit auszulösen. Die Massengewalt an Tamilen vor 13 Jahren und die fortwährende Unterdrückung mit dem Ziel der kulturellen Auslöschung bleiben von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet.

Es erstaunt, dass seit drei Jahrzehnten währende lange Debatten über Konzepte wie "Identität", "Kultur" und "Gruppe", die in deren Dekonstruktion mündeten, in der heutigen Genozid-Forschung und in der Rechtspraxis kaum Spuren hinterlassen haben.

Robuste, statische Definitionen sind nun gar nicht mehr zeitgemäß und gelten als völlig überholt – und doch sind sie heute mehr denn je aktuell: Die Essenzialisierung von "Gruppe", "Volk" und "Kultur" zwingt die in Bedrängnis geratenen betroffenen Menschen dazu, sich in eine Art strategischer Opferschaft entlang bestimmter definierter Merkmale zu fügen.

Potenziell konkurrierende Opfererzählungen und affektive Aufladung

Wenn Justin Trudeau dem US-Präsidenten Biden beipflichtet, es handele sich im aktuellen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine um einen Genozid an den Ukrainern, dann impliziert das auch eine Neubewertung der eigenen kanadischen Geschichte, und insbesondere der Kolonialverbrechen an den First Nations, die das Land aktuell beschäftigen.

Mit dem Begriff "Genozid" wurde kein neues Verbrechen bezeichnet, sondern nur eine Form der Massengewalt neu definiert. Die steile Karriere des Begriffs führte dahin, Genozid als das schrecklichste denkbare Verbrechen aufzufassen.

So nur wurde es überhaupt möglich, die Diskussion darüber, ob etwas "Genozid" genannt werden sollte, als einen Disput über das Verbrechen selbst aufzufassen – als würde mit der Einstufung als Nicht-Genozid das Leid und das Verbrecherische geleugnet und versucht, kollektive Leiderfahrungen zu delegitimieren.

Genozidale Diskriminierung und Leid, über Jahrhunderte tabuisiert, wandelten sich binnen weniger Jahrzehnte zu erstrebenswerten Attributen. Der Kampf um die Anerkennung von Leid wurde zum Wettkampf um das größte Leid, die schlimmste Vergangenheit, die diskriminierendste Gegenwart. Wie ist das zu erklären?

Nur das "Allerschlimmste", das Superlativ des Grauens, darf einen singulären Platz (Stichwort "Singularität des Holocaust") beanspruchen, an der Spitze der Opferkonkurrenten. Diese Beschwörungsformel ist inhaltlich leer; im Streit um Anerkennung des größten möglichen Leids geht es nicht um Argumente, sondern um Affekte.

Es geht um Aufmerksamkeitsökonomien, die sich auf den jeweiligen Ort in der Welt beziehen, den die Streitenden meinen behaupten zu müssen. Im Wettlauf um das Allerschlimmste geht es um Wichtigkeitskonkurrenz und moralische Relevanz. Implizit in der Erzählung ist auch, dass der, der am meisten gelitten hat, zu den Guten gehört.

Insofern darf es keine herausragende Rolle spielen, ob Massengewalt als Völkermord – eine juristische Einstufung – anerkannt wird oder nicht. Und das ist gar nichts Schlechtes – es verharmlost oder trivialisiert in keiner Weise die Schrecken der Behandlung der schwarzen US-Amerikaner, wenn man diese Behandlung "nur" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Apartheid bezeichnet.

Dasselbe gilt für Kolonialverbrechen, Massaker und andere Gräueltaten in Kriegen. Massengewalt gegen Menschen ist der Schandfleck in der Geschichte eines jeden Täters. Ganz gleich, wie wir sie rechtlich beschreiben.