"Meine Feinde verteidigen"

Seite 2: Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der oben erwähnten Broschüre der AAS erklärt deren Vorsitzende, Annetta Kahane, den Kampf gegen Hassrede zum "Kulturkampf der Gegenwart".9 Da könnte sie Recht behalten, allerdings anders als sie glaubt: Die Trennung von Worten und Taten gehört historisch zu den Anfängen der europäischen Aufklärung und zu ihren Grundsäulen: Kugeln töten, Worte nicht - diese Sichtweise war und ist elementar für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Was dagegen (zu) selten gesagt wird: Diese Sichtweise ist nicht zwingend, sie beruht auf einer gesellschaftlichen Verabredung: Systematisch sind Worte irgendwo zwischen Gedanken und Taten angesiedelt: Taten sind oftmals verboten und sollten es auch sein, Gedanken können nicht verboten werden.

Anders als unausgesprochene Gedanken bleiben Worte aber nicht folgenlos, das haben sie mit Taten gemein. Hetzreden haben in der Geschichte immer wieder zu Gewalttaten oder regelrechten Menschheitsverbrechen angestachelt, im Rahmen der Flüchtlingsdebatte lässt sich dies derzeit einmal mehr in all seiner Hässlichkeit beobachten. Wegen der sozialschädlichen Folgen, die bestimmte Reden ohne Zweifel haben können, war und ist die Redefreiheit in vielen Gesellschaften eingeschränkt oder schlicht nicht vorhanden: Blasphemie, aufstachelnde Reden gegen die Obrigkeit und ähnliches sind in den meisten Teilen der Welt verboten und waren es die meiste Zeit unserer Geschichte auch in Europa.

Jedoch: Menschen sind Sprachwesen, wie Salman Rushdie in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2015 so eindringlich feststellte: "Sie [die Menschen] existieren, indem sie sich ihre Geschichte erzählen." Oder umgedreht: "Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht."

Die Kriminalisierung bestimmter Worte oder Reden kommt der Gedankenkontrolle so nahe, wie das in der Realität eben möglich ist: Ohne passende Worte fehlen uns die Mittel, unsere Umwelt auch nur gedanklich zu beschreiben, geschweige denn, uns über sie auszutauschen und zu neuen Gedanken anregen zu lassen. "Die Bedeutung der Redefreiheit", so der britische Wissenschaftsautor und Philosoph Kenan Malik, "liegt darin, dass sie die Voraussetzung bildet, jedwedes politische, soziale, moralische oder auch persönliche Problem zu durchdenken, den eigenen Horizont zu erweitern, die Standpunkte anderer zu verstehen und den eigenen Standpunkt zur Debatte zu stellen."

Die Durchsetzung der Redefreiheit als Grundrecht und Fundament einer demokratischen Öffentlichkeit war Ergebnis eines langwierigen sozialen Prozesses, an dessen Ende unsere heutigen Gesellschaften stehen, die das Wort eher in der Nähe des Gedankens sehen, als in der Nähe der Tat. Dieser Konsens fußt ausdrücklich nicht darauf, dass eine Rede als solche nie schädlich sein könne, sondern darauf, dass Redefreiheit Voraussetzung unseres Mensch-Seins ist. Der in der Debatte um Hassrede und Rassismus im Netz zum Ausdruck kommende Trend, Worte wieder stärker in die Nähe der Tat zu rücken, gräbt daher am Fundament der modernen Gesellschaft.

So heißt es bei der AAS: "Dabei steht die Sprache am Anfang: Hate Spech ist das motivierende Hintergrundrauschen zum gelebten Gewaltexzess. … Deswegen ist Sprache auch Handeln."10 Ähnlich pointiert argumentierte auch die Netzfeministin Anne Wizorek in ihrem Vortrag auf der re:publika15 zu ihrer Sicht auf die Meinungsfreiheit: "Durch Hate Speech im Netz wird Gewalt ausgeübt, es werden Menschen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt und an der Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Geschehen gehindert."

In solchen Aussagen wird der Unterschied zwischen Worten und Taten systematisch verwischt: Worte, auch hasserfüllte Worte, können per se niemanden an irgendetwas hindern. Angst allerdings - etwa vor (Gewalt-)Taten, die den Worten folgen könnten - kann das, genauso wie die Taten selbst natürlich. Nicht Worte schränken Menschen in der Ausübung ihrer Freiheitsrechte ein, sondern die Gefahr oder Tatsache realer Gewalt und der Zweifel, ob Gesellschaft und Rechtsstaat potentielle Opfer erfolgreich schützen können.

Der Kampf gegen Hassrede als Instrument der Ausgrenzung

Für Demokratie, Freiheit, und vor allem für jegliche machtlose Minderheit ist die Unterdrückung der Redefreiheit immer schädlicher als das Aushalten der Freiheit mit all ihren Risiken: Schließlich sind es nicht die Mächtigen, die des Schutzes der Redefreiheit besonders bedürfen, sondern die Machtlosen: Insbesondere ihnen garantiert die Redefreiheit das Recht, jeden status quo infrage stellen zu dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Wer mit Gesetzen gegen Hassreden oder -kommentare vorgehen will, muss aber definieren, was genau er meint - und es werden nicht die Machtlosen sein, die diese Grenzen definieren.

Im aktuellen Diskurs ist der Katalog zu verbietender Sprache politisch meist hochgradig einseitig, auch der Unterschied zwischen vulgärer, verunglimpfender Wortwahl und hasserfüllten Botschaften - die sich durchaus auch in harmlose Worte kleiden lassen - verschwimmt regelmäßig. Wer die Deutungshoheit innehat, übt sehr viel Macht aus: So forderte der Journalist Michael Seemann auf einer Tagung der Friedrich-Ebert Stiftung zum Thema "Wessen Internet? Geschlechterverhältnisse und Debatten im Netz", Plattformen wie Twitter müssten "eine klare Haltung gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Strömungen" entwickeln und deutlich machen, dass manche dort einen "Safespace" hätten, andere, wie etwa "Maskus" (Männerrechtler) "keinen Safespace".11 Für Diskussionsteilnehmer mit unterschiedlichen Ansichten sollen also unterschiedliche Freiheiten gelten.12 Was im Gewand angeblich "neutralen" Engagements für eine zivile Diskussionskultur daherkommt, entlarvt sich als Strategie, den eigenen Standpunkten als einzig sagbaren durchzusetzen.

Auch in der Broschüre der AAS wird sehr genau definiert, gegen wessen Rede effektiver vorgegangen werden soll und wessen Rede "unproblematisch" ist: Hassrede heißt es dort, "kann nicht aus dem jeweiligen Kontext gelöst werden. Dieser Kontext ist meist von der nationalstaatlichen Ordnung geprägt. … Grundlage für Hate Speech ist immer eine bestehende Diskriminierung von Gruppen aufgrund von Hautfarbe, Gender, Sexualität, ethnischem Hintergrund oder Religion. Hate Speech funktioniert nur, wenn sie … in Einklang mit gesellschaftlicher Diskriminierung steht. Rassismus gegen Weiße zum Beispiel kann situativ stattfinden, hat jedoch keine gesellschaftliche Dimension. Entsprechend fallen abwertende Aussagen über Weiße (z.B. »Kartoffel«) nicht unter Hate Speech, da ihnen schlicht die gesellschaftlichen Konsequenzen fehlen."13

Wer so argumentiert, begibt sich auf extrem dünnes Eis: Was genau ist denn die "gesellschaftliche Dimension"? Was auf nationalstaatlicher Ebene gilt - etwa die Diskriminierung von Migranten bei der Wohnungssuche -, kann sich auf Schulhöfen und in Stadtteilen, in denen das Leben der jeweiligen Sprecher stattfindet, ganz anders darstellen. Gleiches gilt für die globale Ebene: Sind Muslime Angehörige einer "machtlosen und entrechteten Minderheit" (so etwa er amerikanische Cartoonist Garry Trudeau in einer Polemik gegen Charlie Hebdo, in der er dem Magazin Hassrede vorwirft14), oder handelt es sich um die Angehörigen einer mächtigen Weltreligion mit 1,5 Milliarden Gläubigen und Milliarden saudischer Petrodollars im Rücken?

Was ist mit einem deutschen Dschihadisten, der sich im Internet auf einer Webseite radikalisiert, die im Iran, dem vom IS kontrolliertem Gebiet oder in Afghanistan gehostet und über Umwege von Saudi-Arabien finanziert wird? Entscheidend für unseren Kontext sind nicht die Antworten auf diese Fragen, sondern die Tatsache, dass diese Fragen in einen offenen demokratischen Dialog hinein gehören und nicht Sittenwächtern überlassen werden dürfen, die anhand ihrer eigenen Weltsicht entscheiden, was überhaupt diskutiert werden darf.

Im Vergleich zur AAS argumentiert die österreichische Autorin Ingrid Brodnig angenehm unaufgeregt, doch auch sie schreibt, es sei "eben ein Irrtum, dass im Internet jede Stimme und jeder User gleich schützenswert ist". Eine Diskussionskultur, so eines ihrer Beispiele, "in der Verschwörungstheorien gleichrangig mit wissenschaftlichen Fakten behandelt werden, ist nicht schützenswert."

Dies scheint im ersten Moment einleuchtend, doch so Manches, was wir heute über unsere Überwachung durch Geheimdienste als Tatsache wissen, galt bis zu den Enthüllungen Edward Snowdens als "Verschwörungstheorie". Wissenschaftlicher Dialog beruht auf dem Wechselspiel zwischen These und Antithese, bestimmte Thesen, und seien sie noch so abstrus, von vornherein auszuschließen, schadet diesem Dialog. Und was hat das Vertreten möglicherweise abwegiger Vorstellungen mit Beleidigungen und Drohungen zu tun?

Die Broschüre Hate Speech der "Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW" definiert Sexismus eng als "Diskriminierung und Abwertung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts". Ausgeschlossen scheint dagegen zu, dass sich Sexismus auch gegen Männer richten könne, etwa im Kontext von Väterrechten nach Scheidungen, oder durch Aussagen wie "Ich bade in deinen Männertränen!".

Auch Brodnig nennt als weiteres Beispiel für "nicht schützenswerte" Diskussionskultur herabwürdigende Bezeichnungen für Frauen ("Schlampe") und übersieht die Einseitigkeit: Natürlich disqualifizieren derartige Ausdrücke den Sprecher für jede ernsthafte Debatte. Doch jeder, der sich - etwa auf Twitter - bereits einmal den Zorn aufgebrachter Netzfeministinnen und ihrer "Allys" zugezogen hat, weiß, dass Aggressivität und herabwürdigende Sprache keine Frage des Geschlechts sind:

Der amerikanische Filmregisseur Joss Whedon (der sich durch seine vermeintlich sexistische Behandlung der Marvel-Figur "Black Widow" den Zorn vieler Netzfeministinnen zuzog) sei als prominentes Beispiel genannt. Auch der oben zitierte Journalist Michael Seemann (der die "Safe Spaces" forderte), greift selbst ab und zu tief ins Wörterbuch des Unmenschen, zum Beispiel wenn er über Twitter Nutzerlisten mit der Bemerkung "menschlicher Abschaum zum Spamblocken" verbreitet oder den Holocaust verharmlost, indem er wissen lässt, er nehme "Maskus halt so ernst wie Holocaustleugner".

Vor einigen Wochen erst stand die britische Radiomoderatorin Julia Hartley-Brewer im Mittelpunkt einer hasserfüllten Kontroverse auf Twitter, nachdem ein Beitrag zum Terroranschlag in Orlando eskaliert war, bis der eingeladene LGBT-Aktivist bei laufender Sendung das Studio verlassen hatte.15