"Meine Feinde verteidigen"

Seite 3: Der Wert der Vielfalt liegt in der Konfrontation

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Fragt man heutzutage nach Macht und Ohnmacht, wirkt ein Verweis wie der auf die "nationalstaatliche Ordnung" angesichts der Vielfalt moderner Gesellschaften hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Einwanderung, Individualisierung, Globalisierung prägen immer komplexere soziale Verhältnisse, die durch vielschichtige und vor allem bewegliche Machtstrukturen gekennzeichnet sind. Unter diesen Bedingungen lassen sich "Oben" und "Unten" oft nur schwer und vor allem nicht unabhängig vom jeweiligen Kontext bestimmen:

Der muslimische Einwanderer im Westen kann in vielfacher Hinsicht Opfer von Rassismus sein - versucht er aber, in seiner Familie und der islamischen "Community" die Regeln der Scharia durchzusetzen, wird er zum Täter. In vielen Teilen der Welt werden Frauen immer noch massiv unterdrückt, andererseits verfügen sie dank des Feminismus hierzulande über gut vernetzte, sehr einflussreiche Organisationen, die ihre Interessen bis auf die europäische Ebene vertreten. Wer Träger des Privilegs ist, hängt vom konkreten Thema ab.

Je mehr unterschiedliche Gruppen eine Gesellschaft ausmachen, desto unvermeidlicher wird es passieren, dass die Ansichten und Lebensweisen der einen Gruppe von Angehörigen der anderen als verletzend empfunden werden. Hierauf mit Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu reagieren, errichtet überall Mauern: 2007 warb die Schwedische Evangelische Allianz auf großen Plakaten für die Beibehaltung der Ehe als Bund zwischen einem Mann und einer Frau. Die Plakate zeigten eine "Normalfamilie", der Text bestand aus drei Worten: "Mutter. Vater. Kinder."

Es folgte eine landesweite Debatte, in der prominente Politiker ein Verbot forderten, weil das Plakat ein Beispiel für "Hassrede" sei: Es könne von Alleinstehenden, Geschiedenen oder Homosexuellen als beleidigend empfunden werden.16 Sicher, die Aussage des Plakats ist ohne Zweifel homophob - aber immerhin knapp zwanzig Prozent der Deutschen sind gegen die völlige Gleichstellung der "Homo-Ehe" und fast drei Viertel (72 %) sind der Meinung, "Ein Kind braucht ein Heim mit beiden: Vater und Mutter, um glücklich aufzuwachsen".17 In welcher Gesellschaft landen wir, wenn wir dieses Segment der Bevölkerung zum Schweigen bringen, um die Gefühle eines anderen Segments nicht zu verletzen?

Richtig wäre der umgekehrte Weg: Wie Kenan Malik zu Recht schreibt, braucht eine vielfältiger werdende Gesellschaft nicht weniger, sondern mehr Meinungsfreiheit.18 Das Positive, das Befreiende in der neuen Vielfalt liegt ja gerade nicht im unhinterfragten Nebeneinander, sondern darin, dass die Vielfalt uns mit neuen Perspektiven konfrontiert und uns hilft, aus dem Gefängnis der eigenen tradierten Vorstellungen auszubrechen. Das geschieht aber nur, wenn diese Vielfalt in einer vielfältigen Öffentlichkeit gelebt wird und aufeinandertrifft. Gelebte Vielfalt verträgt keine "Vorauswahl" an Meinungen, die wir zum Diskurs zulassen und solche, die wir nicht zulassen. Malik: "Zu akzeptieren, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen, bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Formen von Macht nicht infrage gestellt werden dürfen."19