"Meine Feinde verteidigen"

Seite 4: Echokammern zerstören den öffentlichen Raum

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dennoch stellt der Hass im Netz für die demokratische Debattenkultur ein großes Problem dar. Doch wer etwas dagegen unternehmen will, darf nicht zur Zensur greifen, sondern muss den Tribalismus der Netzgemeinde und ihre Echokammern ins Visier nehmen: In der Frühzeit des Internets dachte man, das Netz würde als großer "Gleichmacher" wirken: Die Zugangshürden zum öffentliche Raum würden sinken, körperliche Merkmale wie Geschlecht oder Hautfarbe in der digitalen Kommunikation keine Rolle mehr spielen, der öffentliche Raum selbst würde so demokratisiert werden: Tatsächlich zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass Internetnutzer dazu neigen, sich in Gemeinschaften und Netzwerken Gleichgesinnter zu sammeln, "Echokammern" in denen die eigene Meinung wie ein Echo "zurückhallt".20 Fast im Gegenteil zu dem, was erwartet wurde, fördert das Internet nicht den Kontakt zu anderen Meinungen, sondern reduziert ihn.

Die Folgen dieses neuen "Tribalismus" (Ash) könnten kaum dramatischer sein: Das Entstehen der modernen Demokratie hing eng mit der Urbanisierung und dem Entstehen öffentlicher Räume, Lebensstile und folglich auch Persönlichkeitsstrukturen zusammen, in denen die permanente Begegnung mit Anderen zum unvermeidlichen Alltag (am Arbeitsplatz, beim Freizeitvergnügen, auf der Straße) gehört. Der Rückzug in die Gemeinschaft Gleichgesinnter, wie ihn das Netz ermöglicht, stärkt den Confirmation Bias (also unsere Neigung, Informationen, die unsere Meinung bestätigen, ernster zu nehmen als widersprechende Informationen).

Dieses Auseinanderfallen des öffentlichen Raums befördert Radikalisierungsprozesse - wobei der konkrete Inhalt der Radikalisierung fast beliebig ist: Manche steigern sich in Verschwörungstheorien hinein, andere in Esoterik, religiösen Fundamentalismus, Rechts- oder Linksextremismus, Radikalfeminismus oder Antifeminismus. In einer zunehmend zerfaserten Öffentlichkeit wird die andere Meinung fast nur noch als Provokation wahrgenommen, nicht als legitimer Bestandteil einer demokratischen Debattenkultur.

Forderungen wie die von Michael Seemann nach mehr "Safe Spaces" sind deshalb nicht nur falsch: Solche Konzepte beschleunigen die Bildung von Echokammern weiter und sind das exakte Gegenteil dessen, was wir brauchen.21

Statt Zensur zu betreiben, müssen wir mit allen Mitteln - technisch, sozial und bildungspolitisch - der Zerstörung des öffentlichen Raums entgegenwirken. Technisch bedeutet dies, Strukturen zu schaffen, die die Konfrontation mit anderen Meinungen gezielt fördern: Zum Beispiel nützen die Kommentarfunktionen und "like"-Buttons vieler Plattformen derzeit vor allem den Vielschreibern und den Schreibern mit den aggressivsten Tönen.22 Stattdessen sollte die Sichtbarkeit insbesondere jener Kommentare gefördert werden, die dem ursprünglichen Artikel widersprechen und erkennen lassen, dass sich der Kommentator Mühe gegeben hat (etwa anhand von Kriterien wie Textlänge, Wortwahl oder durch das Verlinken von Quellen).

Ob wir uns mit anderen Meinungen konfrontieren oder einigeln, ist letztlich auch eine Willensfrage. Wir müssen deshalb Medienkompetenz schulen, die dazu anleitet, im Internet die andere Meinung bewusst zu suchen. "Newsgroups", die neutral Meldungen zu ihrem jeweiligen Thema sammeln, eignen sich hierfür besser als eine weltanschaulich festgelegte Gemeinschaft von Aktivisten, zu welchem ehrenwerten Anliegen auch immer.23 Medienkompetenz heißt aber auch, sich den Grenzen und Anforderungen des Mediums selbst bewusst zu sein: Keine noch so ausgefeilte Technik kann die direkte Begegnung mit einem Gegenüber in Fleisch und Blut ersetzen. Die digitale Kommunikation ist unverzichtbarer Bestandteil unserer vielfältigen Kommunikations- und Medienlandschaft, aber eben nur ein Bestandteil von vielen.

Schließlich sollte man sich auch über die Natur des öffentlichen Raums selbst keine Illusion machen: Er war noch nie von einer ausnehmend freundlichen Atmosphäre gekennzeichnet und stand klassisch in der Regel einer kleinen (Bildungs-)Elite offen. Meist erhielten Menschen, die hier regelmäßig auftraten, eine spezielle Schulung in Rhetorik, Autodidakten waren seltene Erscheinungen. Das Internet hat die Zugangshürde radikal gesenkt und den öffentlichen Raum demokratisiert. Nun wimmelt es von "Selbst-Berufenen", die zu allem und jedem ihre Meinung kundtun, egal wie viel oder wie wenig Ahnung und rhetorisches Geschick sich hinter ihren Worten verbirgt.

Das ist ihr demokratisches Recht, aber nun mischen sich vulgäres Gepöbel, geschickte Hetze und schlicht verunglückte Wortmeldungen von "Anfängern", die die Regeln der Debatte erst noch lernen müssen, zu einem manchmal schwer erträglichen Sammelsurium. Die Idee, dass der öffentliche Raum freundlicher werden müsse, ist eine Illusion, er war und wird nie ein Ort für Schüchterne sein. Noch immer und gerade in Demokratien wird hier um die Meinungshoheit gerungen, Macht und Einfluss verteilt. Eigentlich weiß jeder: Wer sich in der Öffentlichkeit exponiert, eventuell noch dazu mit kontroversen Thesen, wird nicht nur auf Freunde treffen, und er sollte wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Wer Beschimpfung nicht aushält, sollte vielleicht einfach etwas Schöneres mit seiner Zeit anstellen.