Multiple Identität junger Europäer

Zunehmend verstehen junge Leute in Europa sich als EU-Bürger

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Viel wurde darüber diskutiert, warum Europa in der Krise steckt. Die Menschen in den Ländern der EU stehen der Gemeinschaft oft kritisch gegenüber. Die EU-Osterweiterung vor zwei Jahren fand keine breite Zustimmung in der Bevölkerung der Kernländer, und der Entwurf der europäischen Verfassung wurde 2005 in Volksabstimmungen von den Franzosen und Niederländern abgelehnt. In den Köpfen herrscht die Vorstellung eines überbordenden Bürokratismus in Brüssel, einer blinden Regelungswut, die es für wichtiger hält, wie stark gekrümmt eine Banane sein darf, statt sich mit dem Demokratiedefizit und den „echten“ Problemen zu beschäftigen.

Nationalistische Positionen feiern überall ein Revival; zuletzt brandete während der Fußballweltmeisterschaft eine patriotische, schwarzrotgoldene Welle über Deutschland (Gemeinschaftliches Rauscherlebnis). Trotz Freizügigkeit im Schengen-Raum) und dem Euro als gemeinsamer Währung (Euro: Run aufs Hartgeld) mangelt es in der Europäischen Union immer noch an einem Gefühl der Zusammengehörigkeit, einem europäischen Identitätsbewusstsein. Das könnte sich bald durch die junge Generation von Europäern verändern, die sich zunehmend als EU-Bürger begreifen. Ein in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science erscheinender Artikel österreichischer Forscher bestätigt diese Tendenz.

Wolfgang Lutz vom World Population Program des International Institute for Applied Systems Analysis und seine Kollegen Sylvia Kritzinger sowie Vegard Skirbekk haben die Ergebnisse der regelmäßigen Meinungsforschung der Europäischen Kommission, des sogenannten Eurobarometers, genau unter die Lupe genommen, um das nationale (und europäische) Selbstverständnis der Europäer zu untersuchen (The Demography of Growing European Identity). Die Wissenschaftler konzentrierten sich dabei auf die Frage: “In the near future, do you see yourself as [Nationality] only, as [Nationality] and European, as European and [Nationality] or European only?” Die Antworten darauf fasste das Team um Wolfgang Lutz zusammen, wer sich zumindest auch als Europäer sieht, gehört zur Kategorie „multiple Identitäten“.

(Bild: Science/Wolfgang Lutz)

In der Eurobarometerbefragung 2004 gaben 42 Prozent der über 18-jährigen an, sich selbst ausschließlich als ihrer Nation zugehörig zu betrachten, die anderen 58 Prozent fühlten sich zumindest teilweise als Europäer. Das bedeutet, dass 130 Millionen erwachsener Europäer der damals 15 Mitgliedstaaten sich selbst nur als Begier, Deutsche, Franzosen oder Italiener etc. sahen. 177 Millionen begreifen sich im Mittel der Erhebungen zwischen 1996 und 2004 als sowohl ihrem Nationalstaat als auch Europa als ganzes zugehörig.

Dabei gab es große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern. In Luxemburg bezeichneten sich 78 Prozent als Europäer im Sinne der multiplen Identität, in Frankreich 68 Prozent, Deutschland und Österreich liegen mit 56 bzw. 51 Prozent im Mittelfeld und das Schlusslicht bilden die Briten mit nur 40 Prozent.

Insgesamt identifizierten sich in Europa immer mehr Menschen (aller Altersklassen) mit der politischen Vereinigung des Kontinents, ab 1996 ließ sich eine deutliche Zunahme erkennen. Besonders stark trifft das für die junge Generation der unter 25-jährigen zu, die bereits in der Realität eines zusammenwachsenden Europas geboren und aufgewachsen sind. In ihrer Sozialisation war die multiple Identität sowohl einem Nationalstaat wie der übergeordneten Ebene Europäische Union anzugehören, eine konstante Selbstverständlichkeit.

Die Forscher um Wolfgang Lutz berechneten zudem aufgrund der vorliegenden Daten und der demografischen Zukunftsprojektionen, wie die Situation sich wahrscheinlich im Jahr 2030 darstellen wird. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich dann nur noch 104 Millionen Bürger (der 15 Mitgliedstaaten vor der Erweiterung 2004) rein national identifizieren werden, während in ungefähr 25 Jahren sich 226 Millionen zumindest teilweise als Europäer betrachten.

Besonders die dann unter 45-jährigen werden weit überwiegend multiple Identitäten besitzen. Endlich einmal eine positive Zukunftsprognose für Europa, wieder einmal ruht die Hoffnung auf der nachwachsenden Generation. Allerdings hat Europa ein wachsendes Problem mit zu niedrigen Geburtenraten – was durch eine Einwanderungsoffensive ausgeglichen werden könnte (Die vergreisende Festung Europa). Ob junge Zuwanderer sich dann tatsächlich stark mit der EU identifizieren, wird sich erst zeigen müssen.