Nichts geht verloren - oder: Totale Überwachung
Das Pentagon will ein künstliches multimodales Gedächtnis entwickeln, das (fast) alles erfasst, einordnet und zugänglich macht, was ein Mensch erlebt
Die Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), die Forschungsabteilung des Pentagon, die gerne auch verwegene Projekte fördert, hat zuletzt vor allem wegen des Überwachungsprogramms Total Information Awareness (TIA) für Aufregung gesorgt. Jetzt ist gerade eine Ausschreibung über ein anderes Projekt angelaufen, von dem manche glauben, es habe mit dem TIA-System zu tun.
Schon allein der Name Total Information Awareness (Totale Überwachung) ließ die hohen Ansprüche an das Data-Mining-System deutlich werden. Gedacht ist, möglichst alle verfügbaren Daten weltweit über die finanziellen Transaktionen und die Kommunikation möglichst vieler Menschen zu sammeln und nach verdächtigen Mustern zu durchsuchen. Das soll der präventiven Erkennung von Terroristen und anderen bösen Menschen dienen. Zu Beginn präsentierte man das Projekt auch noch mit dem Symbol für das Auge des allwissenden Gottes, was für zusätzliche Aufregung sorgte. Und dann leitet das Projekt auch noch eine zwielichtige Gestalt aus der Reagan-Ära: der pensionierte, gut mit dem Pentagon verwobene General John Poindexter, der seiner Zeit aus der Armee wegen der Iran-Contra-Affäre entlassen wurde und wahrscheinlich Reagan und dessen Vizepräsidenten Bush I. deckte.
Der Protest in den USA war groß, weil man befürchtete, dass nun auch alle Amerikaner ausgespäht werden könnten. Schließlich legte der Kongress das Projekt an die Leine, beschränkte es auf das Ausland und verlangte eine strenge Kontrolle. Seitdem ist es ruhiger geworden, auf der Website findet man auch fast nichts mehr, was allerdings nicht heißen muss, dass das Vorhaben eingeschlafen ist. US-Präsident Bush hatte, als TIA zu sehr unter Druck geriet, möglicherweise als Ersatz oder als Ergänzung bereits ein "Terrorist Threat Integration Center" (TTIC) angekündigt (Noch ein Geheimdienst). Neben der Aufrüstung ist Überwachung der wohl wichtigste Investitionsposten der Bush-Regierung, um die nationale Sicherheit, dem alles überschattenden politischen Ziel nach dem 11.9., zu stärken. Manchmal klappt es allerdings auch nicht so wie vorgesehen, beispielsweise bei Ashcrofts Spitzelsystem TIPS (Das geplante Spitzelsystem des US-Justizministeriums wird weiter zurückgefahren).
Den Wahrnehmungsfluss eines Menschen erfassen und speichern
Kürzlich hat die Darpa, bei der man beispielsweise auch nach der wahren künstlichen Intelligenz sucht (Denn sie sollen wissen, was sie tun), die Ausschreibung für ein neues Forschungsprojekt namens LifeLog gestartet. Die Abteilung Information Processing Technology Office (IPTO) sucht nach Vorschlägen, um "ein Ontologie-basiertes (Sub)System zu entwickeln, das den Wahrnehmungsfluss einer Person in der Welt und in Interaktion mit dieser erfasst, speichert und zugänglich macht, um ein breites Spektrum an Partnern/Assistenten oder anderen Systemkapazitäten zu unterstützen". Ziel von LifeLog sei es, "die 'threads' des Lebens eines Menschen im Hinblick auf Ereignisse, Zustände und Beziehungen verfolgen zu können". Dazu soll LifeLog aus drei Komponenten bestehen: "anywhere/anytime"-Datenerfassung und -speicherung, Repräsentation und Abstraktion sowie Datenzugriff und Benutzerinterface.
Erfasst werden sollen physikalische Daten, die von den Benutzern mittels mitgeführter Hardware stammen: visuelle, auditive und sogar haptische Sensoren zeichnen etwa auf, was die (freiwilligen?) LifeLog-Benutzer sehen, hören und fühlen. Mit GPS, einem digitalen Kompass und Trägheitssensoren sollen die Bewegungen und die Orientierung erfasst werden. Aber die Überwachung findet nach Wunsch der Darpa nicht nur äußerlich statt. Sensoren sollen auch die körperlichen Zustände registrieren. Im Vergleich dazu ganz einfach ist die Speicherung - in "geeigneten Formaten" - aller computerbasierten Interaktionen und Transaktionen, die durch Email, Instant Messaging, Surfen oder dem Benutzen aller möglichen Computerprogramme entstehen. Dazu kommt die Speicherung aller Telefongepräche mit den Nummern der Gesprächspartner. Fax und andere Printprodukte müsse man halt scannen, was schon ein wenig aufwändiger ist. Zudem soll LifeLog aber auch noch die "schwindelerregenden Mengen an Kontextdaten" erfassen, denen der Benutzer täglich ausgesetzt ist, wenn er Radio hört, vor dem Fernseher sitzt, Zeitungen, Bücher oder Dokumente liest, im Web surft oder auf Datenbanken zugreift.
Da dürften also Terabytes an Terabytes schon alleine täglich anfallen, wenn LifeLog nicht wie jedes biologische System ein selektierendes Aufmerksamkeitssystem vorschaltet und ebenso selektiv Daten abspeichert, um das System Gehirn nicht mit Unwichtigem zu überlasten und in der Vergangenheit zu ertränken. Bahnbrechende Forschung könnten diejenigen leisten, die tatsächlich umsetzen, was gewünscht wird: Den endlosen multimodalen Strom an Inputdaten automatisch und rekursiv in diskrete Ereignisse und Zustände sowie in "threads" (Ereignisse und Zustände) und Episoden (mit Anfang und Ende) aufzuteilen. Falls dies gelänge, würden identifizierbare und bedeutungsvolle Datenstränge geschaffen -und damit ein wichtiger Schritt im Hinblick auf ein autonomes künstliches Gedächtnis gemacht. Gleichzeitig ließen sich so die "Routinen, Gewohnheiten und Beziehungen mit anderen Menschen, Organisationen, Orten und Objekten" nach Mustern durchsuchen.
Multimedia-Tagebuch, Assistent, Ausbildungshilfe, Schulung für humanoide Roboter?
Die Bewerber müssen sich freilich nicht nur technische Gedanken machen, sondern sollen auch Überlegungen anstellen, wie das System von den Menschen akzeptiert werden könnte und wie sich LifeLog auf Datenschutz, Sicherheit, Copyright und andere rechtliche Bedingungen auswirken könne. Zur Demonstration des Systems ist, um weitere Gelder zu erhalten, eine Reise nach Washington und drei weitere Tagesreisen für mindestens drei LifeLog-Benutzer angesetzt.
Bei Darpa stellt man sich vor, dass LifeLog etwa als automatisches Multimedia-Tagebuch fungieren könne, bei dem der Benutzer mit einer Suchmaschine "leicht" etwas finden kann. Neben diesem "Stand-alone-Modus" könne LifeLog aber auch als Subsystem bei zahlreichen Anwendungen eingesetzt werden. Genannt werden Assistenten aller Art oder Lern- bzw. Lehrzwecke. Wenn mehr Menschen LifeLogs besitzen, könnte man die auch interagieren lassen. Mit angemessenen Datenschutzvorkehrungen könnten beispielsweise Mediziner besser forschen oder eine ausbrechende Epidemie bemerken. Digitalen Spielfiguren oder humanoiden Robotern könnte man realistischere Verhaltensweise beibringen (oder gleich für virtuelle Klone oder Roboter sorgen).
Das alles klingt zunächst einmal nach einem futuristischen Projekt, das auch andere schon sich vorgestellt haben. Im digitalen Zeitalter, in dem sich die Sensoren vervielfachen, die Rechengeschwindigkeit unaufhörlich steigt und der Speicherplatz immer kleiner und billiger wird, entsteht die Idee, dass man trotz aller bereits vorhandenen Probleme keine Selektion mehr walten lässt, sondern schlicht alles abspeichert, was einer Person begegnen oder was sich aufzeichnen lässt. Im gigantisch sich auftürmenden multimedialen Gedächtnis geht nichts mehr verloren und ist alles unverfälscht abrufbar. Während das Vergessen - und die Gnade des Vergessens - zur vordigitalen Vergangenheit wird, sollten auch die mentalen Kapazitäten des Erinnerns von Ballast befreit werden und sich ganz auf das Multitasking in der Gegenwart konzentrieren können.
Allerdings ist die technische Erinnerung gleichzeitig eine totale Überwachung, und die Verlagerung des Gedächtnisses in einen digitalen Speicher macht es möglich, dass Fremde in die bislang private und persönliche Welt eintreten. Auch wenn es möglicherweise weiterhin schwierig sein dürfte, der philosophischen Frage nachzugehen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, so könnte es, sollte das Darpa-Projekt irgendwann realisierbar sein, vielleicht ganz einfach sein zu erfahren, wie es ist, bin Ladin oder Saddam Hussein zu sein (wenn man ihn denn ans LifeLog-System angeschlossen hat).
Welchen genauen Zweck das geplante System wirklich hat, geht aus der Ausschreibung nicht so wirklich hervor. Vielleicht weiß man es auch bei der Darpa tatsächlich nicht, schiebt nur einmal die Forschung an und hofft, dass möglicherweise doch etwas Nützliches entstehen könnte. Gegenüber Wired News versicherte eine Darpa-Sprecherin gleichwohl, dass das Militär damit "computerbasierte Assistenten für Soldaten und Kommandanten entwickeln (will), die effektiver sein können, weil sie leicht auf die Vergangenheit des Benutzers zugreifen können". Man könne auch bessere Ausbildungssysteme entwickeln, da sich damit genau erfassen lässt, wie Auszubildende lernen und interagieren. Ganz überzeugend ist das freilich nicht. John Pike, von Wired befragt, sieht in LifeLog denn auch ein Projekt, das mit TIA oder anderen Überwachungsvorhaben zu tun habe. Cory Doctorow von EFF vermutet, man könne damit Roboter trainieren, aber eben auch Profile von verdächtigen Terroristen erstellen.
Für Darpa ist LifeLog auf jeden Fall auch eine mögliche Komponente in der Entwicklung von "wirklich kognitiven Systemen". Der KI-Wissenschaftler Ronald Brachman, seit letztem Jahr Direktor der Abteilung für informationsverarbeitende Systeme, hat nämlich noch Visionen und will in der KI mit den Rüstungsgelder einen "Quantensprung" schaffen (Denn sie sollen wissen, was sie tun).