Olaf Scholz: einst Kapitalismuskritik, dann Sozialabbau

Seite 4: Der Sozialkahlschlag nimmt Fahrt auf

Im Jahr 2000 beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs ein Programm mit dem Namen "Agenda 2010", eigentlich dazu gedacht, Wirtschaft und Wissenschaft zu vereinen und Europa somit als Wirtschaftsraum stark zu machen. In Deutschland wurde daraus eine grundlegende Arbeitsmarktreform, mit massiven Auswirkungen vor allem für abhängig Beschäftigte. Am 14. März 2003 verkündete Schröder in einer Regierungserklärung den Umbau des Sozialstaats.

Doch zunächst musste er seine Genossen davon überzeugen. Auf einem Parteitag in Bochum am 1. Juni 2003 wurde Schröders "Agenda 2010" mit einer Mehrheit von 90% der Delegiertenstimmen angenommen. Nur zehn Prozent stimmten dagegen, darunter vier Mitglieder des Parteivorstands.

Die Agenda beinhaltete:

• Lockerung des Kündigungsschutzes

• Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Sozialabgaben für die Beschäftigten

• Die Begrenzung des Arbeitslosengeldes (ALGI) auf höchstens 12 Monate

• Abschaffung der Sozialhilfe zugunsten von Arbeitslosengeld II (ALGII), das auch alle beantragen mussten, deren Anspruch auf ALG I nach einem Jahr erlosch. ALG I wurde unabhängig der privaten Vermögensverhältnisse gezahlt, ALG II nicht. Was bedeutet, dass wer beispielsweise ein kleines Häuschen sein Eigen nannte, dieses veräußern musste.

• Die Regelungen der Zumutbarkeit wurden verschärft, Erwerbslose in ALG-II-Bezug sind seither gezwungen, jede angebotene Arbeit anzunehmen, unabhängig davon, ob diese ihrer Qualifikation entspricht.

Insgesamt wurde die Perspektive gewechselt: Waren bis dahin die Arbeitsämter, aus denen im Zuge der "Agenda 2010" die "Arbeitsagenturen" wurden, diejenigen, die passende Stellen für die Erwerbslosen suchen und finden mussten, wurde das jetzt den Erwerbslosen aufgebürdet. Wer sich nicht ausreichend bemühte, musste mit Leistungskürzungen rechnen. Diese Bemühungen mussten zunächst schriftlich nachgewiesen werden, beispielsweise durch einen Stempel eines Arbeitgebers, bei dem vergeblich um einen Job nachgesucht wurde.

Auch das Gesundheitssystem blieb nicht verschont:

• Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung wurden eingeschränkt.

• Eine Praxisgebühr von zehn Euro pro Quartal, ebenso ein Selbstkostenanteil bei Medikamenten.

• Die Krankenhausfinanzierung wurde geändert, die bis dahin übliche Finanzierung durch den Tagessatz wurde durch die Fallpauschale abgelöst. Seither erhalten die Kliniken eine bestimmte Summe für einen bestimmten Eingriff, etwa eine Blinddarm-OP, und nicht mehr die Vergütung der Kosten, die die Patientinnen und Patienten real verursachen.

Manche der ursprünglichen Regelungen der Agenda 2010 wurden inzwischen gelockert, andere verschärft, wie beispielsweise durch Reduzierung der Quadratmeterzahl und Pauschalisierung des Mietzuschlags bei Erwerbslosen im ALG-II-Bezug.

Der Sozialabbau hatte bereits Mitte der 1970er Jahre unter Kanzler Helmut Schmidt (SPD) begonne. Als "Rotstiftpolitik" wurde diese aber damals von den Jusos kritisiert - sicher auch von Scholz. Wie einiges andere auch, schien das jedoch vergessen: Nur zehn Prozent der Delegierten auf dem SPD-Parteitag mochten diesen Sozialkahlschlag nicht mittragen - Arbeitsrechtler Olaf Scholz der 2001 in den Parteivorstand gewählt worden war, gehörte nicht dazu.

Zehn Jahre später betonte er in der FAZ: "Ohne die Reformen damals wäre unser Arbeitsmarkt nicht so stabil durch die Krise von 2008/2009 gekommen." Allerdings räumte er ein, die Reformpläne "hätten viel mehr Akzeptanz gewonnen, wenn wir sie zum Beispiel sofort mit einem flächendeckenden Mindestlohn verknüpft hätten. Diese und ähnliche Fragen hätten wir aus heutiger Sicht besser schon 2003 geklärt." Damals schwebten ihm 6,50 Euro pro Stunde vor, seit 2017 fordert er 12 Euro pro Stunde.

Seine Treue zur Parteispitze zahlte sich aus: Zwar verlor die SPD 2005 auch auf Bundesebene die Mehrheit, sie ging jedoch eine Koalition mit der CDU ein und Angela Merkel wurde Bundeskanzlerin. Scholz zeigte sich anpassungsfähig und löste 2007 seinen Parteifreund Franz Müntefering als Arbeitsminister ab. Nach der Bundestagswahl 2009 kam die CDU ohne die SPD aus, Scholz verlor wieder einmal sein Amt.

Seine Wege führten ihn zurück nach Hamburg. Dort war die SPD wieder im Aufwind. So wurde Scholz im März 2011 zum Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg gewählt. Und zwar ganz ohne Koalitionspartner. Dafür schloss er andere Partnerschaften, unter anderem mit dem Banker Christian Olearius, bis Ende 2019 Aufsichtsratsvorsitzender der Warburg-Bank.

Islamische Fundamentalisten als Partner

Auch andere Bekanntschaften vertiefte er in dieser Zeit, beispielsweise die zu islamischen Verbänden in der Hansestadt. Die Schura, der 1999 gegründete Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg, hatte zur Bürgerschaftswahl 2001 "islamische Wahlprüfsteine" veröffentlicht. Damals war Olaf Scholz Innensenator. Am 13. November 2012 unterzeichnete er, inzwischen Erster Bürgermeister der Hansestadt, den Staatsvertrag mit der Schura, sowie der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (Ditib), dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) sowie der Alevitischen Gemeinde.

In der Schura ist neben der Organisation "Islamische Gemeinschaft Milli Görüş" (IGMG), die in der Türkei als Pendant zur Muslimbruderschaft gilt, unter anderem das "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) organisiert, das aus dem Iran stammende Oppositionelle als eine Art ständige Vertretung der Mullahs in Teheran beziehungsweise als deren langen beschreiben. Auch deutsche Sicherheitsbehörden gehen davon aus.

Der Staatsvertrag räumte diesen Organisationen weitreichende Rechte ein, unter anderem können seither der türkische Staat via Ditib und der Iran via IZH in die Bildungspolitik eingreifen, indem sie in die Gestaltung des Religionsunterrichts einbezogen werden und diesen auch aktiv mitgestalten. Dieser Staatsvertrag war ein absolutes Novum und gilt - vor allem bei den umstrittenen islamischen Verbänden - andernorts als nachahmenswert. Scholz machte islamische Fundamentalisten zu Vertragspartnern, wertete sie damit auf und machte sie auf der politischen Bühne salonfähig.

So stellt sich die Frage, wem das nützt; und ob vom sozialen Kahlschlag betroffene Menschen mit muslimischen Hintergrund bei solchen Verbänden Trost finden - oder ob deren Frust auf die reaktionärste Weise kanalisiert und somit brandgefährlich wird.

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