Orthodoxe Kirche: Krieg als Mission
Religion und Geopolitik. Wie die Macht in Moskau religiöse Narrative nutzt. Über Rhetorik, Identitätsbildung und die heikle Rolle von Kyrill I.
Der russische Mensch ohne Gott ist ein Lump.
Fjodor M. Dostojewski
Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben.
Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale am 21. Februar 2012
Das russische Verteidigungsministerium präsentierte Anfang November ein Bild von russischen Soldaten, das sich so beschreiben lässt: Männer in Tarnuniform, die Gesichter vermummt, posieren in einem Waldstück vor der Kamera; hinter der Gruppe eine notdürftig erstellte Pressewand. Das dargestellte Emblem der Waffengattung ist umrahmt von Heiligenbildern der Ostkirche, dem Christus Pantokrator und der Gottesmutter mit Kind.
Die Propagandamasche ist nicht neu. Besonders beliebt ist die spirituelle Untermalung, wenn es um heikle Staatsoperationen geht, so wie zehn Jahre zuvor bei der Annexion der Krim.
Wie auf Pressefotos damals zu sehen, die z.B. die italienische Zeitung La Repubblica 2014 veröffentlichte: Da folgen orthodoxe Geistliche den russischen Truppen bei der Besetzung der Krim auf dem Fuß; während die Soldaten vermummt auftreten, tragen die Klerikalen, gerüstet mit Stola und Kreuz, offen ihre Mienen zur Schau.
(Un-)Heilige Dreifaltigkeit
Die ikonografische Inszenierung stellt den Versuch dar, die Kriegspropaganda an die religiöse Vergangenheit des Landes zu koppeln. Die ist auch nach Jahrzehnten sowjetischer Religionsfeindlichkeit nicht ausgerottet. Umfragen zufolge bezeichnen sich rund 70 Prozent (andere Quellen: 60 Prozent) der Russen als orthodox. Die Mehrzahl der Neugeborenen wird nach dem orthodoxen Ritus getauft.
Die Berliner Journalistin Katja Tichomirowa sprach von einer neuen "Dreifaltigkeit von Kirche, Klerus und Staatsmacht". Tatsache ist, dass die russisch-orthodoxe Kirche nach der Sowjet-Ära eine ungeahnte Blütezeit erlebte.
Zigtausende Kirchen und Klöster konnten wieder eröffnet werden, die Kirche galt wieder als juristische Person, Eigentum wurde zurückerstattet. Unter Putin sei eine "besondere Partnerschaft" zwischen Kirche und Staat entstanden (Tichomirowa).
Die orthodoxe Hierokratie, staatlich alimentiert, wandelt sich zur bedingungslosen Stütze der Macht. Reinhard Flogaus, Berliner Ostkirchenexperte, beschrieb in der Süddeutschen Zeitung die Situation zugespitzt so1:
Die Orthodoxe Kirche ist nun vollständig in die Kriegsrhetorik des Kreml eingestiegen.
"Gegen die Mächte der Hölle"
Flogaus gibt Einblicke in die Grundsatzerklärung des Weltkonzils des Russischen Volkes (WKRV), das im Frühjahr in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale (Chram Christa Spasitelja) tagte. Im WKRV finden sich hochrangige Repräsentanten aus Kirche (darunter über 100 Bischöfe), Staat, Politik sowie Vertreter von 16 Hochschulen. Vorsitzender ist der Moskauer Patriarch.
Im Dokument ist die Rede vom einheitlichen geistigen Raum der Heiligen Rus'. Putins "Spezialoperation" wird aus "spiritueller und moralischer Sicht" als eschatologische Mission und Bewahrung gegen "Heidentum" und "höllische Mächte" beschworen.
Keine Frage, wer damit gemeint ist. Die russische Welt (Heilige Rus') findet sich hier als Leitgedanke einer Identität, die dem Kreml zufolge die "große russische Nation" sowie Belarussen und Ukrainer umfasst.
Russische Soldaten, die in diesem Angriffskrieg fallen, sind laut Kyrill Märtyrer.
Lesen Sie auch
Ukraine-Krieg: Demilitarisierte Zone als Weg zum Frieden?
Ukraine-Krieg und der Einsatz von Atomwaffen: Wenn beide Seiten mit dem Feuer spielen
Wem gehören jetzt Assads Waffen?
Syrien und Ukraine-Krieg: Donald Trump sieht Chance für Frieden
Ukraine-Krieg: Russland droht mit "stärkeren militärischen Mitteln"
Hegemoniales Geläute und polierte Glaubensformeln können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stellung der Kirche in der Vorstellungswelt der nachwachsenden Generation schwindet. Patriarch Kyrill I. als Primas des Reiches ist kein Idol für die 20- bis 30-Jährigen.
Wer ist dieser Mann?
Der Moskauer Patriarch und der KGB
Kyrill I., Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, mit vollem bürgerlichem Namen Wladimir Michailowitsch Gundjajew, Jahrgang 1946, amtiert seit bald 16 Jahren als Patriarch von Moskau (Amtsantritt 1. Febr. 2009). 100 Millionen Gläubige zählen in Russland zu seinen Schafen.
Jeder Gottesdienst beginnt mit der Erwähnung seines Namens. Offizielle Fotos zeigen ihn gern und in Großaufnahme in einvernehmlicher Pose mit dem profanen Machthaber, hier sind sich zwei "Große" ganz nah: Putin als treuer Freund und enger Vertrauter.
Die prunkvolle Außenseite gehört zum Schattentheater der Macht dazu. Medienberichten zufolge ist Kyrill ein Ex-KGB-Mann (Deckname "Michailow"), der in den 1970er Jahren in der Schweiz für den früheren sowjetischen Auslandsgeheimdienst gearbeitet hat. Offiziell war Kyrill in Genf beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) tätig und trat als Theologe, Prediger und Referent in Erscheinung.
Eines der Ziele der sowjetischen Führung war es demnach, "die Genfer Institution dazu zu bewegen, die USA und ihre Verbündeten anzuprangern".
Kirills Aufgabe soll unter anderem darin bestanden haben, den vom KGB infiltrierten Rat zu beeinflussen.
ntv
Heiligenschein dank Photoshop
Im Gegensatz zum "armutsliebenden Franziskus" soll Kyrill einen Milliarden-Besitz angehäuft haben, schrieb die Bild anlässlich des Zusammentreffens von Papst und Patriarch 2016. Und wusste zu berichten:
Legendär ist seine [Kyrills] Liebe zu Schweizer Luxusuhren, die sein Stab auf offiziellen Bildern mit Photoshop-Tricks zu kaschieren versuchte. In einer Tischspiegelung, die sie dabei übersahen, erkannten Experten 2012 ein 55 000-Franken-Modell von Breguet.
Kyrill residiert in Sichtweite des Kreml, von wo aus sein Freund Putin seine ganz persönliche Machtvertikale spielen lässt. Medien griffen immer wieder das Thema dieser speziellen Interessengemeinschaft auf.
Im Fall des Oberhauptes der orthodoxen Kirche war die Rede von geschätzten vier Milliarden US-Dollar Privatvermögen. Das könnte das Lächeln erklären, das auf gemeinsamen Bildern zu sehen ist.
Fatale Kumpanei
Leonid Wolkow, politischer Direktor der von Alexei Nawalny gestifteten Antikorruptionsstiftung FBK, kennt den russischen Oligarchenkapitalismus und seine innere Verfassung aus eigener Erfahrung. In seinem Buch "Putinland", einer persönlichen Abrechnung mit der antidemokratischen Dynamik des Systems rund um den Kremlfürsten, heißt es2:
Die Logik von Putins System (…) stützt sich auf jahrzehntelang bestehende enge persönliche Beziehungen innerhalb einer überschaubaren Gruppe, deren Stabilitätszentrum Putin ist.
Leonid Wolkow
Die Oligarchen sind Putins Portemonnaie, schreibt Wolkow3); die hohe Geistlichkeit, so möchte man ergänzen, dient Putin als willfähriges Feigenblatt. Mit ihrem Beistand hofft der Kriegsherr sich die Volksgunst zu erhalten und nicht zuletzt das nationale Identitätsgebäude von unnötigen Diskursen freizuhalten.
Anspruch und Wirklichkeit: Die eigenen Moralansprüche legte Russlands Bischofssynode – zum ersten Mal in der Geschichte der Orthodoxie – 2000 in Form einer "Sozialdoktrin" nieder. Es lohnt sich, da hineinzuschauen.
Abgesang: Zur Hypnose der Macht
Putin und Kyrill – Brüder der Macht in einem Paradies von Platzhaltern und Strohmännern. Die russische Zivilgesellschaft zeigt sich auch – oder erst recht – nach Nawalnys Tod anhaltend schwach und zersplittert.
"Die Gabe der Machthabenden besteht in der Fähigkeit der Suggestion", fand der russische Philosoph Nicolai Berdjajew. Die den Ukrainefeldzug begleitende Choreografie bringt die Elemente der Herrschaft und ihrer Reproduktion zusammen: Nationalstolz und Heiligenkult. Die Melange erweist sich in ihrer mystischen Abgründigkeit – und dies schon immer – als blutige Verabredung.
Die Kirche, die große Buhlerin, spricht unterdes alle im Krieg Verheizten von Sünde frei. Der Tod steht ihr gut.