Pflichtbewusste IS-Mörder

Screenshot des YouTube-Videos der Überwachungskamera vom Atatürk-Flughafen.

Im Kampf um die Medienaufmerksamkeit werden Massenschlächtereien geplant und diszipliniert ausgeführt, wie das Video einer Überwachungskamera auf groteske Weise vor Augen führt

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In der Nacht zum Sonntag sind bei einem Terroranschlag auf ein Einkaufsviertel im von Schiiten bewohnten Stadtteil Karrada mehr als 200 Menschen getötet und mehr als 300 verletzt worden, zunächst war man von 90 ausgegangen (IS sprengt 70 bis 90 Menschen in die Luft). Wie immer wurde auch dieser Anschlag quantitativ in der Hit-Liste eingetragen: als der "blutigste seit 2007" oder als schwerster in diesem Jahr. Just so denken und planen die für die Tat Verantwortlichen auch, schließlich sind Selbstmordanschläge dieser Art keine militärischen Angriffe, sondern Medienspektakel, die möglichst oben im Ranking der weltweiten Anschläge eingeordnet werden sollen.

Anschläge sind bei aller blutigen Realität vorwiegend Propaganda - und damit angewiesen auf den Transport durch die Medien, deren Stoff wiederum just solche nichtalltäglichen Ereignisse, solche "News", sind. Medien als kollektive Aufmerksamkeitsorgane reagieren notwendig auf schlimme, plötzliche und überraschende Ereignisse. Das ist nur in einer totalitären Gesellschaft, die den gesamten Informationsraum kontrolliert, zu verhindern. Aber den Mechanismus können Terroristen immer wieder triggern, allerdings müssen steigen die "Anforderungen" zumal dann, wenn wie im Irak oder in Syrien, aber auch in Afghanistan, in Libyen oder Somalia täglich "kleinere" Selbstmordanschläge geschehen, die nur für lokales Interesse sorgen oder in Kriegsgebieten tatsächlich direkt militärische Ziele haben.

Zu dem Anschlag bekannte sich der selbst ernannte Islamische Staat, der schon zuvor die viele Opfer fordernden Terroranschläge in Dhaka, Bangladesch, und auf den Atatürk-Flughafen für sich reklamierte. Letzterer dürfte auch an einem symbolischen Datum geplant gewesen sein, dem zweiten Jahrestag der Ausrufung des Kalifats durch al-Bagdadi im kurz zuvor eingenommenen Mossul. Alle Anschläge sind nicht spontan geschehen, etwa in Reaktion auf die Niederlagen im Irak (Falludscha) oder in Syrien (Palmyra, vielleicht auch Manbij) und den zunehmenden Rückzug des IS. Sie waren offenbar gut geplant, lange vorbereitet und eingeübt - und sie wurden mit der schon bekannten Entschlossenheit von den Tätern durchgeführt, selbst dabei zu sterben. Das Vorgehen wird zurecht etwa von Europol nach dem Anschlag in Paris als ähnlich diszipliniert beschrieben, wie das von Elite-Spezialeinheiten. Nach deren Vorbild werden vom IS auch geeignete Personen ausgewählt und hart trainiert (Im Stil von "westlichen Spezialeinheiten"). Es soll ein "Aktionskommando" geben, das bereits mehrere hundert Mann für Anschläge im Ausland trainiert hat, die sich teilweise schon in den Ländern befinden sollen (IS-Strategie für Europa).

Auch für die täglichen Selbstmordanschlägen an den Kriegsfronten im Irak und in Syrien ist nicht nur permanent eine Maschinerie zur Planung, zum Herstellen des Sprengstoffs und zur Panzerung der Fahrzeuge notwendig, sondern auch eine hohe Disziplin derjenigen, die den Anschlag ausführen und dabei ihr Leben einsetzen, also ihre finale Tat realisieren, um dann von der IS-Medienabteilung gerühmt zu werden. Indoktrination, Unterwerfung unter die Gruppe und die Autorität der Führer, wahrscheinlich eine Art apokalyptisches Sendungsbewusstsein und durch begangene Morde und Grausamkeiten oder durch Zusehen bei Exekutionen und Folterungen gelernte Mitleidslosigkeit, gehören sicherlich dazu. Aber vermutlich sind die von der Organisation "auserwählten" Selbstmordattentäter auch besonders pflichtbewusst. Man kann sich auf sie "verlassen", sie führen ihren Auftrag möglichst cool und entschlossen bis zum Tod aus. Sie wären ebenso geeignet für das Militär oder andere Aufgaben, die hohe Disziplin voraussetzen. Offenbar entdecken manche derjenigen, die aus den westlichen Ländern und ihrem dort als ungenügend erfahrenen Leben zum IS gestoßen sind, erst dort im großen blutigen Abenteuer ihre Disziplin, die sie zuvor nicht entwickeln konnten oder für die sie keinen befriedigenden Anschluss gefunden haben.

Screenshot des YouTube-Videos der Überwachungskamera vom Atatürk-Flughafen.

Nach dem Anschlag auf den Atatürk-Flughafen wurde ein surreales Video einer Überwachungskamera gezeigt, das den Irrsinn dieser Jagd auf das höchste Ranking auf groteske Weise verdeutlichte. Das Video der Kamera, die hinter einem Shop angebracht ist und eine Halle im Flughafen abdeckte, setzt ein, als die Passagiere noch ganz ruhig herumspazieren und der gelangweilte Mann im Shop etwas auf seinem Computerbildschirm anschaute. Dann hörten die Anwesenden wohl Explosions- und Schussgeräusche oder auch Schreie. Sie werden von Panik erfasst und flüchten, so schnell es geht, in alle Richtungen weg von jener, in die die Kamera zeigt. Auch der Mann aus dem Shop eilt nach kurzem Zögern davon. Nach wenigen Sekunden hat sich die Halle geleert. Kurz nachdem der Letzte sich um Ecke absetzen konnte, sieht man einen mit einem Gewehr bewaffneten Mann in die Halle laufen, der verbissen um sich zielt und offenbar frustriert, weil er niemanden finden kann, das Gewehr zu Boden schleudert. Man muss sagen, dass er seine Mordmaschine pflichtbewusst wieder aufhebt, dann rennt er zurück und verschwindet.

Aus dem Video wird klar, dass die Selbstmordattentäter besessen sind von mörderischem Pflichtbewusstsein. Der junge Mann dürfte nicht gewahr gewesen sein, dass er sich im Blick einer Überwachungskamera befindet, als er kurz seiner Verzweiflung Ausdruck gab, um schnell wieder die "Arbeit" aufzunehmen und nach Opfern zu suchen, um das Todesranking des Anschlags zu verbessern, bis er selbst stirbt.