Pokrowsk und Wuhledar: Russlands Zangenbewegung im Donbass
Russlands Offensive im Donbass gewinnt an Fahrt. Pokrowsk und Wuhledar geraten unter Druck. Können die Ukrainer die Zange noch aufhalten?
Die militärische Lage an der Ostfront der Ukraine spitzt sich weiter zu. Besonders kritisch ist die Lage in den Schlüsselgebieten Pokrowsk und Wuhledar, wo die russischen Streitkräfte deutliche Fortschritte verzeichnen.
Kritische Lage an der Ostfront: Russische Vorstöße bei Pokrowsk
Die russischen Spitzen sind nur noch gut 1,7 Kilometer von der Agglomeration Pokrowsk entfernt. In den vergangenen Tagen konnte die russische Armee an diesem Frontabschnitt bedeutende Geländegewinne erzielen. Es ist ihr gelungen, die zweite Verteidigungslinie auf breiter Front zu durchbrechen und in einer bemerkenswerten Entwicklung die der Agglomeration vorgelagerte Kleinstadt Hrodiwka fast vollständig einzunehmen.
Die russische Führung hat in der Vergangenheit immer großen Wert auf die Flankensicherung gelegt, eine Taktik, die auch bei Pokrowsk zu beobachten ist. So wird die russische Armee vor einem Großangriff auf Pokrowsk versuchen, eine Lücke in der Front unmittelbar westlich der Großstadt Donezk zu schließen.
Russische Taktik: Flankensicherung vor Großangriff
Zwischen Maksymil'yanivka und Ukrajinsk hat sich eine fast dreizehn Kilometer breite und etwa fünfzehn Kilometer tiefe Senke gebildet.
Die russische Führung wird vermutlich versuchen, diese Tasche nicht nur als Aufmarschgebiet für mögliche Flankenangriffe auf die eigenen Truppen in Richtung Pokrowsk zu neutralisieren, sondern sogar ein Umfassungsmanöver anzustreben.
Erst nach Abschluss dieser Operation ist mit weiteren Vorstößen in Richtung Pokrowsk zu rechnen.
Wuhledar unter Druck: Einkesselungsversuche der russischen Armee
Bedeutsam ist auch die Entwicklung in Wuhledar, wo die russische Armee offenbar eine Einkesselung der Stadt anstrebt. Die wichtige Straße O0532 konnte zwischen Kostyantynivka und dem Bergwerk "Pivdennodonbaska 1" auf ganzer Länge eingenommen werden.
Westlich von Wuhledar finden Kämpfe um Prechystivka statt, sodass davon auszugehen ist, dass die russische Militärführung bestrebt ist, die Festung Wuhledar vollständig vom Nachschub abzuschneiden. Schon jetzt gibt es keine durchgehende befestigte Logistikroute mehr nach Wuhledar, der ukrainische Nachschub ist bereits auf unbefestigte Feldwege angewiesen. In der bevorstehenden Schlammperiode werden diese jedoch kaum noch nutzbar sein.
Wuhledar ist seit 2014 ein stark befestigter Eckpfeiler der ukrainischen Front im Donbass. Im Gegensatz zu Pokrowsk befinden sich hinter der Bergbaustadt jedoch noch ausgedehnte Verteidigungslinien.
Insgesamt ist die militärische Lage in der Ukraine äußerst angespannt.
Vergleich mit historischen Schlachten: Kursk als ukrainisches Gettysburg?
Laut einem Artikel von Anthony J. Constantini im National Interest vom Freitag kann die ukrainische Offensive bei Kursk mit der Schlacht von Gettysburg im amerikanischen Bürgerkrieg verglichen werden. Constantini argumentiert, dass die Ukraine, ähnlich wie die Konföderierten 1863, versucht, die Dynamik des Krieges zu ihren Gunsten zu wenden, indem sie mutig in feindliches Gebiet eindringt.
Der Autor warnt davor, die strategische Bedeutung der Kursk-Offensive zu überschätzen. Die Ukraine habe nur dünn besiedelte ländliche Gebiete erobert, nicht die Stadt Kursk selbst. Für den Kreml sei dies eher eine Blamage als eine ernsthafte Bedrohung.
Constantini prognostiziert, dass Russland aufgrund seiner größeren Ressourcen den Konflikt einfach in die Länge ziehen und allmählich weitere ukrainische Gebiete erobern wird. Am Ende könnte die Ukraine durch die Offensive mehr verloren als gewonnen haben. Die Parallele zu Gettysburg: Was zunächst als genialer Schachzug erschien, erwies sich im Nachhinein als Höhepunkt vor dem Untergang.
Schwächung der Ostfront: Umverteilung ukrainischer Truppen
Eine detailliertere Analyse bietet der gestern erschienene Artikel von Michael Kofman und Rob Lee in Foreign Affairs. Die Autoren beschreiben den ukrainischen Angriff auf Kursk als riskantes Manöver, das zwar kurzfristig die Dynamik des Krieges verändert habe, dessen langfristige strategische Auswirkungen aber noch unklar seien. Sie betonen, dass die Ukraine durch die Umleitung von Ressourcen von der Verteidigung im Osten zur Offensive in Russland darauf setzt, dass andere Frontabschnitte nicht zusammenbrechen.
Viele dieser Truppen wurden von den Frontlinien in Donezk und Charkiw abgezogen, wo sie gegen den russischen Vormarsch kämpften. Die Autoren sehen darin ein Risiko für die Ukraine, da wichtige Kräfte nun in Kursk gebunden sind, während die Verteidigung im Donbass geschwächt wurde.
Die Autoren weisen darauf hin, dass die Operation bisher nicht dazu geführt hat, dass Russland nennenswerte Kräfte von anderen Frontabschnitten abgezogen hat. Stattdessen habe Moskau seine Offensivbemühungen in der Ostukraine sogar verstärkt. Der ukrainische Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyi wird zitiert, wonach Russland seine kampfstärksten Einheiten an die Pokrowsk-Front in Donezk verlegt habe.
Strategische Alternativen: Was die Ukraine hätte tun können
Gleichzeitig warnen die Autoren vor den Risiken einer Überdehnung der ukrainischen Kräfte und einer möglichen russischen Gegenoffensive im Winter.
Sie betonen, dass die Ukraine auch andere Optionen gehabt hätte, etwa sich auf die Verteidigung zu konzentrieren und ihre unterbesetzten Streitkräfte wieder aufzufüllen, während sie gleichzeitig ihre Langstreckenangriffe gegen Russland ausweitete. Sie argumentieren, dass die Ukraine mit einer defensiven Strategie gute Chancen gehabt hätte, die russische Offensive zu zerschlagen und gleichzeitig die Personalprobleme zu lösen und die Frontlinien bis zum Winter zu stabilisieren.
Kofman und Lee stellen fest, dass die Kursk-Offensive zwar kreativ war und einen symmetrischen Kampf gegen einen zahlenmäßig überlegenen Gegner vermied, aber auch viele Fragen zur ukrainischen Gesamtstrategie aufwarf. Sie betonen die Notwendigkeit einer klaren und abgestimmten Strategie zwischen der Ukraine und ihren westlichen Partnern, um den Krieg zu einem für die Ukraine günstigen Ende zu bringen:
Seit 2023 hat Washington keine Ideen mehr, wie der Krieg unter für die Ukraine günstigen Bedingungen erfolgreich beendet werden kann.
Drohende Eskalation: Mögliche iranische Raketenlieferungen an Russland
Bloomberg berichtete gestern in einem Artikel über eine weitere beunruhigende Entwicklung für die Ukraine. Anonymen europäischen Beamten zufolge steht der Iran kurz davor, ballistische Raketen an Russland zu liefern. Diese Lieferung könnte innerhalb weniger Tage beginnen und würde eine bedeutende Eskalation des Konflikts darstellen.
Der Bloomberg-Artikel beschreibt auch die aktuelle Lage in der Ukraine als kritisch, mit anhaltenden Bombardierungen der ukrainischen Energieinfrastruktur vor dem dritten Kriegswinter. Der jüngste Angriff auf Kiew hat die Verwundbarkeit der ukrainischen Luftabwehr gegenüber ballistischen Raketen gezeigt. Von 16 abgefeuerten Raketen konnten nur neun abgefangen werden.
Bloomberg weist darauf hin, dass die russische Kriegswirtschaft in der Lage ist, Raketen und Munition in einem Tempo zu produzieren, das die Lieferfähigkeit der ukrainischen Verbündeten oft übertrifft. Zudem kann Moskau auf Lieferungen aus Ländern wie Iran und Nordkorea zurückgreifen und erhält wichtige Komponenten aus Ländern wie China.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die ukrainische Offensive bei Kursk zwar kurzfristig die Wahrnehmung des Kriegsverlaufs verändert hat, aber auch erhebliche Risiken birgt.
Die ukrainische Führung tauscht derzeit die seit 2014 gut ausgebauten Verteidigungsstellungen im Donbass gegen Wälder, Felder und Dörfer in der Region Kursk ein, was für sie sehr nachteilig ist. Insbesondere die Situation bei Pokrowsk ist als äußerst kritisch zu bewerten, da sich hinter der Stadt keine Verteidigungslinien mehr befinden.
Die Ukraine hofft, durch die Offensive bei Kursk ihre Position zu stärken und weitere westliche Unterstützung zu mobilisieren. Gleichzeitig könnte die drohende Lieferung ballistischer Raketen durch den Iran an Russland die Lage für die Ukraine weiter erschweren und den Konflikt auf eine neue Eskalationsstufe heben. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die ukrainische Strategie aufgeht und wie sich die mögliche iranische Unterstützung für Russland auf den Kriegsverlauf auswirken wird.