Popkomms neue Wege in die Krise

Weltgrößte Messe für Popmusik und Entertainment oder "Jammertal"?

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Was sollte die diesjährige Popkomm nicht alles sein: die letzte in Köln; der "Krisengipfel der Musikbranche" (dpa); mit Blick auf dem Umzug nach Berlin ein würdiger Abgang und zukünftig ein "Symbol für den Neuanfang" (Popkomm.-Mitbegründer und Viva-Chef Dieter Gorny); dank der neuen Popkomm.Public nicht mehr nur eine Fachmesse, sondern auch eine, zu der Fans und Hobbymusiker teilweise Zugang erhalten; und dann ja noch der Termin zur offiziellen Inbetriebnahme der Phonoline, womit die Branchenriesen Universal, Sony, AOL Time Warner, EMI, BMG und weitere Unternehmen als Konkurrenz zu illegalen Tauschbörsen auftreten wollten. Wollten?

Schon vor Beginn der Popkomm. hatte der Sprecher der deutschen Phonoverbände (IFPI), Hartmut Spiesecke, zum neuen Onlineportal gesagt: "Es ist alles noch offen, ich kann nichts Konkretes sagen." Medienberichten zufolge waren der Grund dafür unterschiedliche Ansprüche - etwa bei den Verwertungsrechten sowie Tantiemen - und unausgereifte Technikpläne. So würden die Unternehmen etwa kostenpflichtig aus dem Web geladene Lieder auch noch auf dem Computer des Kunden kontrollieren wollen, war zu vernehmen. Anbieter wollten Berichten zufolge vorab auch festlegen, wie oft oder ob überhaupt Kunden die für zirka 99 Cent erworbenen Musikstücke auch auf CDs brennen dürften.

Am Ende konnte der Bundesverband Phono nach fast zweijähriger Planung in Köln immerhin mitteilen, im Herbst werde die gemeinsame Lieferplattform gestartet. Das Angebot soll indes nicht auf einer zentralen Website präsentiert werden, sondern nur die "technische Schnittstelle" zu "Shops" auf Homepages von Onlinehändler, RTL oder Viva darstellen. Thomas Stein, BMG Präsident Deutschland, sagte, Phonoline müsse schnellstmöglich dazu beizutragen, dass der Tonträgermarkt aus dem Umsatztief herauskomme. Für Gerd Gebhardt, Vorsitzender der deutschen Phonoverbände, "sichert" die Plattform indes bald "die Zukunft der deutschen Musikindustrie". In seiner Keynote Speech warnte er derweil, die wirtschaftliche Talsohle sei noch nicht durchschritten.

Revival der Klagelieder

Die popkomm. war - nachdem sie im Jahr 2000 im Dotcom-Fieber über sich selbst hinausgewachsen war - in 2001 noch von einer gewissen Sachlichkeit geprägt und hoffte, den Crash abzuwenden. Indes stimmte die Branche vergangenes Jahr wegen des Booms von CD-Brennern und Web-Tauschbörsen erneut das schon 1999 mit der Kampagne "copy kills music" geträllerte Klagelied an (Es geht um Leidenschaft!). So wunderte es auch in diesem Jahr nicht, im Vorfeld auf Schlagzeilen zu stoßen wie: "Musikbranche geht am Stock" (Focus online) oder "Popkomm wird Krisengipfel der Musikbranche" (dpa).

Grund dafür: War der Tonträgerumsatz laut Branche - deren multinationale Konzerne übrigens oft ihr Geld in verschiedenen Sparten der Unterhaltungselektronik verdienen, darunter auch mit dem Verkauf von CD-Rohlingen und -Brennern - schon in letzten Jahr um 10,8 Prozent eingebrochen, war nun ein weiterer Umsatzrückgang um 16,3 Prozent zu beklagen. Alleine, so der Bundesverband Phono, bei den im Bereich Funk und TV beworbenen "Hitcompilations" sei der Umsatz um bemerkenswerte 47,5 Prozent zurückgegangen. Spiegel-Online schrieb vom "siebten Minus-Jahr in Folge".

Weitere Folge: Die Branche hat seit dem Jahr 2001 Tausende von Mitarbeitern entlassen. Und schon Werner Rügemer, Journalist aus Köln, wusste: "Beim großen Börsencrash der letzten Jahre wurden eben nicht, wie es gemeinhin heißt, mehrere hundert Millionen Dollar Anlegergeld 'vernichtet'; sie befinden sich nur auf anderen Konten."

Zwar gilt die Popkomm. immer noch als weltgrößte Messe für Popmusik und Entertainment, dennoch leidet auch sie mit der Branche und musste einen deutlichen Ausstellerschwund hinnehmen. In diesem Jahr präsentierten sich - auch Folge verschiedener Insolvenzen sowie dem Rückzug vieler Indie-Labels - nur 618 Firmen aus 26 Ländern. Im vergangenen Jahr hatten sich noch rund 790 Unternehmen an der Messe beteiligt. Den absoluten Höhepunkt an Ausstellern hatte die Popkomm. im Jahr 2000 während des Dotcom-Hypes. Seinerzeit präsentierten sich 924 Aussteller, im Jahr 2001 sank deren Zahl auf knapp 830 Firmen. Abzuwarten bleibt, wie sich die Ausstellerzahlen nach dem Umzug vom Rhein an die Spree entwickelt. Gerüchten zufolge sollen die Branchenriesen mit Sitz in Berlin den Umzug mit sanften Druck bewirkt haben. Entweder ihr kommt zu uns, oder wir gründen eine eigene Messe.

Wo man Menschen zur Abspulstationen reduziert, verbrennt man auch Seelen

Neben dem klassischen Geschäftsbereich für Fachbesucher gab es in diesem Jahr erstmals mit der Popkomm.Public eine abgegrenzte Messe, auf der Fans und Hobbymusiker hinter die Kulissen des Popgeschäfts blicken sollten. Indes handelte es sich hierbei wohl um einen Fake, wurde sozusagen ein Teil des Ringfestes auf die Popkomm. verlegt. Besucher mussten dafür Eintritt bezahlen und durften ihre Stars "treffen" - oft blieb es bei Autogrammstunden mit meist aufgeregten, manchmal auch kreischenden Mädchen. Daneben wurden auch Live-Programme geboten, wobei etwa auch Yvonne Catterfeld, Scooter, die zusammen gecastete Retortenband Bro'Sis und das inszenierte Popprinzesschen Jeanette auftraten. Also gab es jene Plastikmusik, deren Inszenierungsmasche einen zur Popkomm. denn auch extrem werbewirksam auf den Titelblättern von "TV Spielfilm", "TV Movie" und "TV Today" anstrahlte.

Von den Covern jener Blätter grinst Michelle Hunziker, quäkende Moderatorin von Deutschland sucht den Superstar. Und "TV Spielfilm" zitiert im passenden Bericht dazu BMG-Präsident und Jurymitglied der RTL-Castingshow, Thomas Stein: "Mit den Superstars der ersten Staffel haben wir 4,5 Millionen CDs verkauft. Das ist ein erfreuliches Ergebnis und ein kleiner Aufschwung im zurückgehenden Musikgeschäft." Ist es aber auch eine Gewinn bringende Investition in die Zukunft? Jurymitglied Shona Fraser sprach auf einem Popkomm.-Podium von "Produkten", die die Branche "dem Markt geliefert" habe. Gemeint war damit auch "Superstar" Alexander, Frasers Aussage weitergedacht eine Abspulstation für vorproduzierte Massenware.

Ganz eigene Gedanken macht sich hier die Kampagne Rotationsverbot, die der Branche vorwirft, Jugendlichen die "Entwicklung eines persönlichen Geschmacks" abzusprechen. Vielleicht hat ja der Boom der Retortenbands das seinige zur Krise beigetragen und die Branchenriesen haben zu wenig in Nachwuchskünstler investiert.

Alter Wein als neue Bräuche

In gewisser Weise innovativer trat die Musikindustrie in den Wochen vor und Tagen während der Popkomm. wohl nur im Drohen auf. Ähnlich wie die US-Musikindustrie werde auch die deutsche Branche künftig mithilfe staatlicher Ermittlungsbehörden gegen Raubkopierer vorgehen, hieß es. Trete im Herbst das neue Urheberrecht in Kraft, so der Urheberrechtsexperte und Branchen-Rechtsanwalt Bernhard Knies sechs Wochen vor der Musikmesse, würden Labels und Bundesverband "mit Hilfe der Staatsanwaltschaft und der Polizei künftig saftige Geldstrafen gegen einzelne Anbieter durchsetzen, um abschreckende Exempel zu statuieren." Sony-Regionalchef Baltasar Schramm bekräftigte dieses Vorhaben am Freitag.

Auch war die Popkomm. der Startschuss dafür, dass der Lobby-Verband Nutzer von illegalen Musiktauschbörsen ab sofort mit Emails verwarnt. Jürgen Becker, Gema-Vorstandsmitglied, riet derweil den Providern, die mittels technischer Sperren in der Lage seien, Nazi-Propaganda und Kinderpornographie im Web zu blockieren, gemeinsam mit der Branche auch gegen "Musikpiraterie im Internet" zu kämpfen. Will man den Vergleich überhaupt zu Ende denke? Aber schon 1999 hatte es auf der popkomm. geheißen: "Brenner machen Krebs!"

So forderte denn auch Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement bei seiner Eröffnungsrede die Branche auf, sich Neuerungen zu stellen, statt nur darauf zu reagieren - oder sie plump abzuwehren. Der Sozialdemokrat mahnte, es sei problematisch, die eigenen Kunden - siehe USA - wegen des verbotenen Herunterladens von Songs massenhaft zu verklagen. Es müsse endlich attraktive legale Download-Möglichkeiten geschaffen werden, forderte Clement. Der für die Popkomm. geplante Startschuss der Phonoline war da aber schon vertagt worden. Und "Die Welt" schrieb der "Musikindustrie im Jammertal" ins Stammbuch: "Perspektivisch steht die deutsche Musikindustrie vor dem Problem, dass sich die technische Entwicklung nicht zurückdrehen lässt." Den Schritt von der Vinyl-Schallplatten zur CD ging sie, aber danach, merkte die "Badische Zeitung" an, habe die Branche kaum mehr mitgezogen. "Schon längst hätte sie ihr Geschäftsmodell um- und sich auf die Bedürfnisse ihrer verloren gegangenen Kunden einstellen müssen." Doch statt aufs "Ende der CD-Industrie" zu reagieren, hock(t)e man planlos und phlegmatisch wie das Kaninchen vor der Schlange.

Die "Zeit" attestierte am 14. August: "Im Laufe weniger Jahre wanderte der Geist des Rock'n'Roll, der von der Industrie nur mehr schnöde verwaltet wurde, auf die Seite der Hacker, der Mobilen, der Rebellen im Datendschungel. Sich Sound direkt zu besorgen, einen Konzern mit ein paar Tastenbewegungen als tumben Riesen vorzuführen - das rockt!"

Was indes weniger rockt oder poppt, ist eine Branche mit wenig Sinn für Selbstkritik, die den Menschen gute Unterhaltung verkaufen will und muss - wogegen kaum etwas einzuwenden wäre -, die ihnen aber nur noch mit der eigenen Krise in den Ohren liegt. Und wenn schon nicht damit, dann mit Plastikproduktionen, die trotz viel nackter Haut und ihrer angeblichen Wildheit höchst steril wirken.