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Seite 5: Staatlich organisierter Kapitalismus

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Der Staat, der aus neoklassischer liberaler Perspektive durch seine Eingriffe überhaupt erst die Probleme erzeugt, die er zu lösen vorgibt, wird durch die medizinische (Selbst-)Legitimierung plötzlich zum Hauptakteur. Der konstruierte Antagonismus von freier Konkurrenz und staatlichem Dirigismus hält der tatsächlichen Entwicklung des historischen Kapitalismus selbstverständlich keineswegs stand: Ohne staatliche Vorleistungen wären Unternehmen gar nicht in der Lage, ihre private Tätigkeit zu entfalten. Sie verlangen von den Staaten nationale und internationale Absprachen zur Sicherung von Handel und Kapitalverkehr und nehmen sich gleichzeitig die Freiheit, Unterschiede in den regionalen und nationalen Kapitalverwertungsbedingungen für sich auszunutzen. Normalerweise sind es die stärksten Kapitalgruppen, die die Regierungen und internationalen Organisationen für ihre Interessen einspannen.

Man könnte meinen, die Welt steht derzeit Kopf, wenn wir den Dirigismus beobachten, der im volksgesundheitlich legitimierten Ausnahmezustand herrscht. Die Erwerbsfreiheit ist in weiten Teilen außer Kraft gesetzt. Vorhandene und zukünftige Steuermittel werden ohne jede Ausgabenbremse in das Virus-Management und die Kontrolle der Durchsetzungsmaßnahmen gepumpt. Für Unternehmen und zu KurzarbeiterInnen deklarierte Arbeitslose gibt es Rettungspakete und weitreichende Versprechungen auf Kompensation der Krisenfolgen. Darüber hinaus steigen die Kosten für Kündigungen, Sozialhilfe und die Reparatur all dessen, was sich durch Schulschließung, Wohnungskasernierung und soziale Isolation zusammenbraut. Ein verordneter Schuldenstaat ist unvermeidlich.

Die Bundesrepublik Deutschland hat Ende März 2020 den Wirtschaftsstabilisierungfonds mit 600 Mrd. Euro plus weitere 150 Mrd. Euro an Hilfsgeldern und Überbrückungskrediten für krisengeschüttelte Unternehmen geöffnet, Österreich schnürte ein Packet von 42 Mrd. Euro, die USA von 2000 Mrd. Dollar. Auch die Europäische Zentralbank macht unter dem Titel "Pandemic Emergency Purchase Programme" 750 Mrd. Euro locker, um Staatsanleihen von Mitgliedsstaaten aufzukaufen, sogenannte Corona-Bonds sind in Vorbereitung.

All dies könnte - fälschlicherweise - als Nachfragestimulierung im Keynesschen Sinne interpretiert werden. Vielmehr muss die Ausgabefreudigkeit der Staaten jedoch als Ausdruck eines geopolitischen Konflikts um Führungskompetenz in der Weltwirtschaft betrachtet werden.

Zum Vergleich drängt sich die Depression im Anschluss an die große Weltwirtschaftskrise 1873 auf. Diese hat im Deutschen Reich, in der Habsburgermonarchie und in Russland, deren Industrialisierung gegenüber den westeuropäischen Staaten zurücklag, zu einem gewaltigen Stimuluspaket in Berlin, Wien und Sankt Petersburg zur Förderung der Industrie geführt. Der so genannte organisierte Kapitalismus mobilisierte das Auslandskapital zur Stärkung der Banken, die die Schwäche des Bürgertums durch Industriefinanzierung und Industriebeteiligung kompensierten.

Über Fusionen und Übernahmen entstanden in den wichtigen Branchen große Kartelle, denen die kleinteilige, im Konkurrenzkapitalismus verhaftete Unternehmenslandschaft zum Opfer fiel. Der solcherart bewerkstelligte Aufschwung, der auf Kosten sozialer und regionaler Entwicklungsziele erzielt wurde, fand seine Fortsetzung in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs.

Auch heute wird die Überführung der - auf Erwerbsfreiheit und Wettbewerb beruhenden - Marktwirtschaft in eine neue Kommandowirtschaft im Zusammenspiel zwischen Banken und den großen Playern der zukünftigen Leitsektoren organisiert. Der große Gegenspieler der europäischen Staaten und der USA ist dabei China, das in den vergangenen 30 Jahren mit der Losung "Öffnung und Reform" vorgezeigt hat, wie staatlich administrierter Kapitalismus nachholende Entwicklung in Gang und damit den Westen unter Anpassungsdruck setzen kann. Nicht nur im Meistern der Corona-Krise, auch im Meistern des organisierten Kapitalismus gibt China die Strategie vor, die der kapitalistischen Weltwirtschaft einen neuen Zyklus bescheren könnte. Und das ist keine Frohbotschaft.

Die Frage steht im Raum: Wer zahlt die Zeche? Woher werden die versprochenen und ausbezahlten, tatsächlich nicht vorhandenen Milliarden-Beiträge kommen? Wie werden sie anschließend wieder eingetrieben? Dass Krisenkosten über Massensteuern oder Hyperinflation der Allgemeinheit aufgebürdet werden, während zukunftsträchtige Branchen über Förderungen und Anreize die öffentlichen Mittel für sich nutzen können, ist absehbar.

Die Wiederherstellung globaler Güterketten sollte auch erlauben, einen Teil der Kosten auf andere Weltregionen abzuschieben. Doch das nie dagewesene komplette Herunterfahren der Wirtschaft könnte auch in den westlichen Zentren drastischere Maßnahmen wie Währungstausch und Sparguthabenabschöpfung erfordern - Maßnahmen, die im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 bereits in Zypern erprobt wurden. Theoretisch könnte man dabei auch vorrangig die Reichen zur Kasse bitten, praktisch würde dies jedoch einen Umsturz erfordern. Wer sollte vor dem Hintergrund eines nationalen Schulterschlusses eine solche Umverteilung durchsetzen?

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