Profit über Planet: Wie die Lebensmittelindustrie unsere Zukunft verspielt

Wehe, wenn der Boden-Burnout kommt. Symbolbild: Tama66 / Pixabay Licence

Deutsche Lebensmittelbranche als Negativbeispiel: Wirtschaftliche Schäden größer als Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Was Ökonomen jetzt fordern.

Die globalen Agrar- und Ernährungssysteme zerstören mehr Wertschöpfung, als sie hervorbringen. Die politischen Rahmenbedingungen für Ernährungssysteme müssen daher dringend überarbeitet werden. Zu diesem Schluss kommt ein globaler Bericht, der von führenden Wissenschaftlern der Ökonomie und aus der Food System Economics Commission (FSEC) erstellt wurde.

Die Welt befinde sich auf einem extrem gefährlichen Kurs. Die 1,5-Grad-Grenze werde nicht nur überschritten, sondern auch darüber hinaus würde die globale Durchschnittstemperatur noch jahrzehntelang steigen, befürchtet Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und FSEC-Initiator.

Auf gefährlichem Kurs: Die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze

Der einzige Weg, um wieder auf 1,5 Grad zu kommen, ist der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen, die Bewahrung der Natur und die Umwandlung der Agrar- und Ernährungssysteme von einer Quelle für Treibhausgase hin zu einer Senke. Die Zukunft der Menschheit hängt somit auch vom globalen Ernährungssystem ab, sind die Ökonomen überzeugt.

Die jüngste Entwicklung der Lebensmittelsysteme stehe vor der größten Herausforderungen der Menschheit, vor allem anhaltender Hunger, Unterernährung, Fettleibigkeit, Verlust der biologischen Vielfalt, Umweltschäden und Klimawandel.

Der wirtschaftliche Schaden, der sich daraus ergibt, betrage weltweit mehr als zehn Billionen US-Dollar pro Jahr – mehr als die Lebensmittelsysteme zum globalen BIP beitragen. Werde das aktuell schlecht funktionierende Ernährungssystem nicht aktiv umgestaltet, entstünden Kosten, die die geschätzten Summen vermutlich noch übertreffen. Mit effizienten Ernährungssystemen könnten Millionen Menschen vor dem vorzeitigen Tod bewahrt werden.

Zwei Szenarien: Die Zukunft von Ernährung und Gesundheit

Die Autoren erklären zwei mögliche Zukunftsszenarien für das globale Ernährungssystem:

Szenario Eins: "Weiter so" auf dem aktuellen Kurs: Was würde bis 2050 passieren, selbst wenn die politischen Entscheidungsträger alle derzeitigen Verpflichtungen einhalten? Die Ernährungssysteme werden weiter für ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich sein. Damit tragen sie bis zum Ende des Jahrhunderts zu einer Erwärmung von 2,7 Grad im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten bei.

Im fortschreitenden Klimawandel häufen sich extreme Wetterereignisse. Dementsprechend anfälliger wird auch die Nahrungsmittelproduktion. In einigen Teilen der Welt werden 640 Millionen Menschen (darunter 121 Millionen Kinder) immer noch unterernährt sein. Andererseits wird die Fettleibigkeit weltweit um 70 Prozent zunehmen.

Szenario Zwei: Transformation des Ernährungssystems: Auf dem Pfad eines transformierten Ernährungssystems könnten bessere Strategien und Maßnahmen bis 2050 dazu führen, Unterernährung zu überwinden. Damit könnten insgesamt 174 Millionen Menschen vor einem vorzeitigen Tod durch ernährungsbedingte chronische Krankheiten bewahrt werden.

Einkommen für 400 Millionen Beschäftigte

Rund 400 Millionen Beschäftigte in der Landwirtschaft weltweit könnten ein ausreichendes Einkommen erzielen. Zusätzlich fungieren die Ernährungssysteme als Netto-Kohlenstoffsenken. Damit helfen sie

• die globale Erwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf unter 1,5 Grad zu begrenzen

• zusätzlich 1,4 Milliarden Hektar Land zu schützen sowie

• die Stickstoffüberschüsse aus der Landwirtschaft zu halbieren und den Verlust der biologischen Vielfalt zu begrenzen.

Lösungen für Gesundheits- und Klimaprobleme

In der aktuellen Agrar- und Ernährungspolitik häufen sich steigende Kosten. Diese wiederum führen zu hohen versteckten Gesundheits- und Umweltkosten. Würden die Agrarsysteme auf der ganzen Welt umfassend transformiert, würde dies zu sozioökonomischen Gewinnen in Höhe von fünf bis zehn Billionen US-Dollar pro Jahr führen, befürchten die Autoren.

Die Kosten für diese Transformation schätzen die Experten auf 0,2 bis 0,4 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung pro Jahr. Damit seien die Kosten einer Transformation viel geringer als der potenzielle Nutzen, der vielen Hundert Millionen Menschen ein besseres Leben ermöglichen würde.

Ernährungssysteme haben ein einzigartiges Potenzial, um globale Klima-, Umwelt- und Gesundheitsprobleme gleichzeitig anzugehen - und damit Hunderten von Millionen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen, erklärt Hermann Lotze-Campen, FSEC-Kommissionsmitglied und Leiter der Forschungsabteilung "Klimaresilienz" am PIK.

Instrumente für Entscheidungsträger

Die Food System Economics Commission (FSEC) versteht sich als "unabhängige akademische Kommission", bestehend aus Vertretern des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Weltgesundheitsorganisation, Weltbank, London School of Economics, das World Resources Institute Africa und andere mehr.

Ziel ist es, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern Instrumenten und Fakten an die Hand zu geben, um die Ernährungs- und Landnutzungssysteme zu verändern. Zudem will sie Experten aus den Bereichen Klimawandel, Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft und natürlichen Ressourcen miteinander vernetzen. Er soll zur Diskussion zwischen den wichtigsten Interessengruppen anregen.

Marktmacht und ihre Auswirkungen auf die Lebensmittelkette

Hierzulande liegt die Marktmacht bei Einzelhändlern, Schlachtern und Molkereien. Die Bauern als schwächste Glied in der Kette bekommen den kleinsten Teil der Wertschöpfung ab. Die vier größten Lebensmittelkonzerne Edeka, Rewe, Lidl und Aldi beherrschen 85 Prozent des Lebensmittelmarktes.

Deshalb können sie die Lebensmittelpreise erhöhen, ohne die Erlöse angemessen an ihre Lieferanten in der Lebensmittelkette weiterzugeben, kritisiert Reinhild Benning, Agrarexpertin der Deutschen Umwelthilfe (DUH). Dominierende Supermarktkonzerne können unfaire Verträge durchsetzen, diese zu ihren Gunsten verändern und Preise für Lebensmittel unter Produktionskosten veranschlagen, kritisiert auch die Initiative für faire Preise in der Lieferkette (IniFair).

Acht Molkereien und zehn Schlachthöfe dominieren deutschen Markt

Acht Molkereien beherrschen mehr als die Hälfte des Rohmilchmarktes, und gerade mal zehn Schlachthöfe schlachten über 80 Prozent der Schweine in Deutschland. Dem gegenüber stehen viele tausend Bauernhöfe ohne entsprechende Marktmacht.

Nicht zuletzt werden die Preise für viele Produkte vom Weltmarkt bestimmt, weiß Jutta Roosen, Agrarökonomin an der TU München. Das bestätigen auch der Handelsverband Deutschland (HDE) und der Handelsverband Lebensmittel (BVLH). Direkte Verträge zwischen Handel und der Landwirtschaft sind selten. Die meisten Agrarrohstoffe werden zwecks Verarbeitung zu Lebensmittelprodukten an die Unternehmen der Ernährungswirtschaft verkauft, wie etwa Molkereien oder Schlachtbetriebe.

Die schwache Position der Milchbauern

Milchmarkt-Experte Professor Holger D. Thiele vom Fachbereich Agrarwirtschaft der Fachhochschule Kiel beschreibt den EU-Milchmarkt als funktionierenden Markt, der durch die Weltmarktpreise geprägt sei. Den Einfluss des internationalen Marktes auf die Preise bezifferte er mit gut 80 Prozent. Ein Milcherzeuger müsse seine Milch den Molkereien andienen.

Diese Milch werde von den Molkereien angenommen, der Preis aber erst im Nachhinein festgesetzt und den Bauern mitgeteilt. Der Landwirt wisse demnach nicht vorab, welchen Preis die Molkerei ihm für seine Milch bezahlen wird. Zwar beteiligen die Molkereien die Landwirte am Verkaufserfolg der Produkte, das wirtschaftliche Risiko jedoch tragen die Landwirte, kritisiert Niels Frank, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Lademann & Associates.

Dringender Handlungsbedarf zur fairen Verteilung

2023/24 gingen die Gewinne landwirtschaftlicher Haupterwerbsbetriebe wieder massiv zurück. Der Rückgang liegt zwischen 33 und 53 Prozent, glaubt man dem Verband der Landwirtschaftskammern. Grund hierfür seien fallende Agrarpreise und sich weiter verschlechternde ökonomische Rahmenbedingungen.

Nach den Angaben von IniFair erhalten die deutschen Landwirtschaftsbetriebe im Durchschnitt nur 18 Prozent der Wertschöpfung in der Lebensmittelkette, während die EU-Landwirtschaftsbetriebe im Durchschnitt 27 Prozent der Wertschöpfung bekommen. IniFair, ein Bündnis von bäuerlichen Organisationen, des Fairen Handels, der Entwicklungspolitik sowie des Umwelt- und Verbraucherschutzes, fordert die Politik daher zum Handeln auf.