Proteste in Frankreich: Warum es dabei auch um die Demokratie geht

Seite 2: Kampf um Wohlstand und Demokratie in Frankreich

In Frankreich brodelt es, Hunderttausende sind auf den Straßen und protestieren gegen die Rentenreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Bilder reichen von friedlichen Demonstrationen bis hin zu brennenden Barrikaden und brutaler Polizeigewalt.

Das Land scheint außer sich zu sein, und so mancher Demonstrant findet, die Regierung in Paris habe sich vom Volk entfremdet und über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden. Die Ausschreitungen seien die letzte verbliebene Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, erklärten Demonstranten gegenüber Journalisten.

In deutschen Kommentarspalten wird mitunter mit gehässigen Kommentaren auf die Bilder aus Frankreich reagiert. Es werde seit Wochen "der letzte demokratische Staatspräsident kaputt gestreikt", behauptet etwa Spiegel-Kolumnist Nikolaus Blome.

Einen rationalen und nachvollziehbaren Grund für den Protest scheint es demnach für Blome nicht zu geben. Linke und Grüne "wollen sich im Aufstand ein letztes Mal selbst fühlen und zahlen jeden Preis dafür", schreibt Blome. Und dafür würden sie sich auch zur fünften Kolonne des Kremls machen und das Land dem Rassemblement National in den Rachen werfen.

Schlichter hätte man die Ereignisse wahrlich nicht interpretieren können; aber diese Form von politischem Framing ist seit Jahren – in abgewandelter Form – bekannt. Widerspruch gegen die offizielle Politik wurde hierzulande in den letzten Jahren auch allein dadurch diskreditiert, dass manchen Personen die Etiketten "Nazi", "Querfront" oder "Putinversteher" angeheftet wurden.

Nun sind es also "Frankreichs Linke, Kommunisten und Grüne", die mit ihren Rentenprotesten angeblich Marine Le Pen in den Sattel helfen. Was bedeutet schon das Opfer von zwei Jahren Lebenszeit, wenn dadurch nur Le Pen verhindert werden könnte? Warum also "für die traditionsalte Rente" streiken, die für viele Franzosen nur "das Sinnbild ihrer Arbeiterehre" ist?

Die Franzosen sind aber weit davon entfernt, sich an das Althergebrachte zu klammern. Sie wenden sich nicht gegen jegliche Reform des Rentensystem, sondern gegen Macrons neoliberale Vorstellungen.

Der Ökonom Thomas Piketty schrieb in seinem Blog, Macron befinde sich mit seinen Ideen in der falschen Epoche und verschwende der Franzosen Zeit.

Er wendet Rezepte an, die für die Welt der 2020er Jahre völlig ungeeignet sind, als ob er intellektuell in der Ära der Markteuphorie der 1990er und frühen 2000er Jahre stecken geblieben wäre, der Welt vor der Krise von 2008, Covid und der Ukraine. Der aktuelle Kontext ist jedoch geprägt von zunehmender Ungleichheit, Hyper-Wohlstand und der Klima- und Energiekrise. Dringend notwendig sind Investitionen in Bildung und Gesundheit und die Schaffung eines gerechteren Wirtschaftssystems, in Frankreich und in Europa, und erst recht auf internationaler Ebene.

Thomas Piketty

Die von Macron propagierte Idee einer "universellen" Rente führe nur dazu, dass "die abgrundtiefen Ungleichheiten des Arbeitslebens bis zum Tod verewigt" würden, schreibt Piketty weiter. Es gebe dagegen andere Möglichkeiten, die den Schwerpunkt auf kleine und mittlere Renten legten und die über eine progressive Abgabe auf Einkommen und Vermögen finanziert werden könnten.

Macron versuche heute aber gar nicht einmal mehr, den Modernisierer des Sozialstaates zu spielen. Seine Reform zielte lediglich darauf ab, "Geld einzunehmen, ohne jegliches Ziel der Universalität oder Vereinfachung".

Über Pikettys Argumentation könnte man noch hinausgehen und darauf verweisen, dass es Macron mit seiner Reform darum geht, dem Diktat der Finanzmärkte zu folgen. Der französische Präsident betonte mehrfach, dass ein Verzicht auf dieses Gesetz die Fähigkeit des Landes gefährden würde, auf den Finanzmärkten Kredite aufzunehmen.

Und wenn Blome vor diesem Hintergrund meint, Macron wäre "der letzte demokratische Staatspräsident", dann offenbart das ein seltsames Verständnis von Demokratie. Denn sie fußt auf der Idee der Volkssouveränität, also, dass Recht und Gesetz vom jeweiligen Staatsvolk ausgehen – und nicht von den Finanzmärkten und Anlegern aus anderen Ländern.

Piketty betont, es sei die große Lektion der Geschichte, dass Wohlstand durch Gleichheit und Bildung entsteht, und nicht durch die Verfolgung von Ungleichheit. Indem die Regierung von Emmanuel Macron den Sozialstaat schwäche, anstatt ihn auszubauen, schwäche sie das Land und seinen Platz in der Welt.