Rückbesinnung auf Entspannungspolitik und Abrüstung!

SM-6-Rakete von Sprechblase gehalten

SM-6-Rakete (Standard Missile 6)

Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor 12 gestellt. Wissenschaftler warnen: Schon ein Prozent der Atomwaffen würde die Menschheit auslöschen.

Anlässlich des 1. September, dem Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen 1939 finden in Deutschland unter dem Motto "Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" bundesweit Demonstrationen statt. Damit soll an die schrecklichen Folgen von Krieg, Gewalt und Faschismus erinnert werden. Natürlich auch ein Anlass, aktuell über die krisen- und kriegsträchtige Situation aufzuklären und zum Frieden aufzurufen.

In einer kurzen "Gemeinsamen Erklärung" vereinbarten am Rande des Nato-Gipfels Anfang Juli 2024 in New York die USA und die Bundesrepublik die Stationierung amerikanischer Langstreckensysteme: Ab 2026 sollen nur in Deutschland Tomahawk-Marschflugkörper, SM-6-Raketen und neue Hyperschallwaffen stationiert werden, die konventionell und – wenn gefordert – auch mit Atomsprengköpfen bewaffnet werden könnten.

Mit über 2.000 Kilometer Reichweite könnten sie im Tiefflug Zielobjekte direkt in Russland bekämpfen, die sie in wenigen Minuten Russland erreichen könnten.1

Damit schließen wir eine Fähigkeitslücke im Bündnis und stärken die Abschreckung!

Verteidigungsminister Boris Pistorius.

Kritik an mangelnder parlamentarischer Beteiligung

Historisch einmalig ist wohl seit Gründung der Bundesrepublik, dass ein Bundeskanzler allein eine solch weitreichende Entscheidung trifft, ohne den Deutschen Bundestag einzubinden, ohne eine parlamentarische Debatte und einen kritischen Diskurs mit den Abgeordneten aller Fraktionen zu führen.

Beschlossen wurde das Rüstungsprojekt ohne ein gleichzeitiges Verhandlungsangebot an Russland – wie beim Nato-Doppelbeschluss unter Helmut Schmidt. Ein dicht besiedeltes Land wie die Bundesrepublik würde zur Zielscheibe russischer Atomraketen.

Die Reaktionszeiten verkürzen sich und die Gefahr eines Atomkriegs in Europa würde sich dramatisch erhöhen. Mit der Vereinbarung über die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026 wurde eine offensive Rüstungsmaßnahme beschlossen, die einen weltweiten Rüstungswettlauf auslösen könnte.

Gefahr eines Atomkriegs in Europa steigt

Rolf Bader
Rolf Bader

An der Grenze zwischen den Nato-Staaten und Russland stehen sich hochgerüstete Streitkräfte von Heer, Luftwaffe und Marine gegenüber. Waffenarsenale aller Art – konventionell wie atomar bestückt – könnten im Verteidigungsfall in Europa eingesetzt werden. Die USA und Russland besitzen annähernd jeweils 6.000 Atomwaffen, die als Gefechtsfeldwaffen mit niedriger Sprengkraft (ca. 0,3 Kilotonnen (KT)), als taktische Atomwaffen mit bis zu 130 KT bis zu strategischen Interkontinentalraketen mit bis zu 3 Megatonnen einsetzbar wären.

Insgesamt sind die 32 Nato-Staaten den russischen Streitkräften – außer bei Atomwaffen – in der Anzahl von Soldaten und konventioneller Waffensysteme zumindest zahlenmäßig überlegen. Dieser ungefähre Kräftevergleich dokumentiert, welches Zerstörungspotenzial eingesetzt werden könnte. Käme nur eine begrenzte Anzahl der Atomwaffen zum Einsatz, wären große Teile Europas unbewohnbar und wahrscheinlich Millionen Menschenleben zu beklagen.

Der Auftrag der Bundeswehr konzentriert sich nach dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder auf die Landesverteidigung. Es wurden von der Bundesregierung umfangreiche Rüstungsmaßnahmen beschlossen, die die Bundeswehr befähigen sollen, ihren Auftrag erfüllen zu können.

Was aber bedeutet ein Verteidigungsfall für die Menschen in Deutschland und in Europa? Mit wie vielen Toten, verletzten und traumatisierten Menschen, mit welchen Zerstörungen der lebenswichtigen Infrastruktur kalkulieren die Militärs der Bundeswehr und der Nato?

Unbeantwortete Fragen zur Landesverteidigung im Kriegsfall

Ein Schlachtfeldszenario wie im 1. Weltkrieg ist gänzlich unrealistisch, da sich ein Krieg nicht mehr regional begrenzen lässt. Wie sollen Ballungszentren, das Ruhrgebiet, Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München militärisch verteidigt werden? Wie sehen realistische Evakuierungspläne von Millionen Menschen aus? Ist eine medizinische Versorgung von Hunderttausenden verletzter Soldaten und Zivilisten überhaupt möglich? Welche Folgen hätte ein Ersteinsatz von Atomwaffen der Nato?2

Es ist nicht davon auszugehen, dass diese existenziellen Fragen über die Folgen eines Krieges für Deutschland und Europa gestellt werden, geschweige denn von Militärexperten, Generälen und führenden Politikern beantwortet werden könnten. Auch von einer Bereitschaft, die Öffentlichkeit damit zu konfrontieren, ist wohl kaum auszugehen.

Deshalb wäre eine Rückkehr zu einer Sicherheits- und Friedenspolitik notwendig, die sich auf Entspannung, Dialog und die Lösung von Konflikten rückbesinnt. Auch in Zeiten des Kalten Krieges galt die Prämisse, die Doppelstrategie des Harmel-Berichts der Nato von 1967 von "gesicherter Verteidigungsbereitschaft verbunden mit Diplomatie" anzuwenden.3

Rüstungskontrolle als Weg zu Verhandlungen mit Russland

Besonders in Krisen und wie auch im Ukraine-Krieg wäre das Bemühen um Verständigung, Kooperation, das Streben nach Gewaltabbau und gemeinsamen Handlungsstrategien, die über weltanschauliche Gegensätze hinweg greifen, das Gebot der Stunde.

In der aktuellen Lage wären Gesprächsangebote über Rüstungskontrolle wichtig, die als "Türöffner" für Verhandlungen mit Russland dienen könnten – mit dem Ziel einer Revitalisierung des INF-Vertrags, der 2019 vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump aufgekündigt wurde.

Die Bereitschaft der Nato, auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, könnte die Ernsthaftigkeit der Verhandlungsbereitschaft unterstreichen.

Vom Bulletin of the Atomic Scientists wurde die "Weltuntergangsuhr" auf 90 Sekunden vor 12 gestellt. Bei einem Einsatz von nur ein Prozent der über 13.000 Atomwaffen könne sich die Menschheit in weniger als 24 Stunden auslöschen, so die Wissenschaftler. Ein Alarmzeichen, das weltweit aufrütteln müsste.

Ein Weckruf zur Besinnung und Umkehr! Es gilt, den Klimawandel und den Rüstungswettlauf zu stoppen.

Um die Gefahr eines Atomkriegs zu bannen, bedarf es Strategien, die auf Friedens- und Entspannungspolitik bauen. Rüstungskontrolle und Abrüstung gehören wieder auf die Agenda der internationalen Politik. Sie tragen zur Stabilität und Kriegsverhinderung bei und könnten den bedrohlichen Verlauf der "Weltuntergangsuhr" vielleicht noch stoppen.

Rolf Bader, geb. 1950, Diplom-Pädagoge, ehem. Offizier der Bundeswehr, ehem. Geschäftsführer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte:innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte:innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW).