Russland: "Wovor die Regierung wirklich Angst hat, das sind soziale Unruhen"

Dr. Alexander Dubowy ist Russland- und Osteuropa-Analyst an der Universität Wien. Foto: www.alexander-dubowy.com

Nicht alle Kriegsgegner gehen auf die Straße – nach staatlichen Umfragen unterstützen zwei Drittel der Russen den Einmarsch in die Ukraine. Wie wirken die Sanktionen? Ein Gespräch mit Alexander Dubowy

Der Österreichische Russland- und Osteuropa-Analyst Dr. Alexander Dubowy von der Universität Wien sprach mit Telepolis über die Folgen des Ukraine-Krieges für die russische Gesellschaft. Alexander Dubowy war unter anderem langjährig an den Universitäten Lomonossow und MGIMO in Moskau tätig. Er ist mit der globalen Expertengemeinschaft und auch russischen Thinktanks vernetzt.

Sie haben in einem Interview in Wien ausgesagt, Putin habe die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine wohl alleine getroffen. Selbst Experten im Regierungsumfeld meinen ja, das bringt Russland viel mehr Nach- als Vorteile. Warum hat Putin jetzt das Heft in die Hand genommen?

Alexander Dubowy: Diese Entscheidung war sehr überraschend, denn bislang haben wir einen sehr rationalen Präsidenten Wladimir Putin kennengelernt. Die Entscheidungen sind zwar stets im kleinen Kreis gefallen. Aber es wurde davor die die Positionen alle Vertreter des Außen- und sicherheitspolitischen Establishments angehört. Diesmal schien es ganz anders zu sein. Die Entscheidung hat er wohl im Alleingang getroffen.

Sie wirkt sehr emotional, beinahe schon wenig überlegt, wenig durchdacht. Sie scheint von Annahmen auszugehen, die bei näherer Betrachtung keinerlei argumentative Grundlage haben, wie beispielsweise die Vorstellung, dass nach dem Einmarsch der russischen Truppen die ukrainische Bevölkerung vor allem im Osten die russische Armee als Befreier begrüßen würde. Oder dass die ukrainische Armee ähnlich wie 2014 auf der Krim Kämpfe vermeiden werde, dass sie überläuft oder sich allgemein zurückhält. Das ist natürlich nicht passiert, das konnte gar nicht passieren!

Was hat sich seit 2014 geändert?

Alexander Dubowy: Die Gesellschaft in der Ukraine ist wesentlich konsolidierter geworden, als es 2014 noch der Fall war. Die Armee war 2014 ein Bruchstück der sowjetischen Armee, vernachlässigt, unterfinanziert. Sie musste 2022 in einem völlig neuen Gewand erscheinen: Gut ausgerüstet, gut versorgt, gut vorbereitet und auf diesen Krieg, auf einen heißen Krieg mit Russland, nicht nur mit prorussischen Freischärlern und einzelnen russischen Einheiten, sondern mit einer vollwertigen russischen Armee. Auf diesen Krieg hat man sich ja seit 2014 auch moralisch vorbereitet.

Nicht nur die russische Außenpolitik hat sich jetzt verschärft, auch die Innenpolitik etwa in Bezug auf Pressefreiheit und Menschenrechte. Denken Sie, das setzt sich fort, wenn jetzt eine neue Eiszeit mit dem Westen anbricht?

Alexander Dubowy: Wir müssen davon ausgehen, dass die Repressionswelle noch intensiver wird, weitere Bereiche der Gesellschaft umfassen wird. Etwa die Gesetze, die am 4. März in der Staatsduma beschlossen wurden. Man droht mit einem Ausnahmezustand, sogar Kriegszustand im ganzen Land. All das wird natürlich der russischen Führung wesentlich effizientere Möglichkeit geben, die Gesellschaft noch weiter unter Repressionen zu setzen.

"Von einer patriotischen Welle wie 2014 sind wir heute weit entfernt"

Nach einer Umfrage des staatlichen Instituts WZIOM unterstützen zwei Drittel der Russen die Invasion. Rechnen Sie damit, dass diese patriotische Welle anhält?

Alexander Dubowy: Nun, noch ist es natürlich etwas zu früh, um das endgültig zu beurteilen. Allerdings von einer wirklich patriotischen Welle wie 2014 nach der Annexion der Krim sind wir heute weit entfernt. Aber ich bin mir auch nicht sicher, wie belastbar die Daten von WZIOM sind.

Eines muss man zugeben: Die Mehrheit der russischen Gesellschaft scheint doch in erster Linie den Staatsnachrichten zu glauben. Die meisten Menschen informieren sich ja auch laut den vielfachen und zahlreichen Umfragen des Zentrums in erster Linie aus dem Staatsfernsehen. Und hier wird schon seit Jahren ein sehr eindeutiges Bild vermittelt und auch Gespräche mit Freunden und Bekannten aus Russland bestätigen mir das.

Die Gesellschaft, vor allem die intellektuelle Schicht, die Mittelschicht ist wiederum anders herum vergleichsweise eindeutig in ihrer Meinung. Hier herrscht eine große Ablehnung des Krieges. Allerdings sind nicht alle Menschen bereit, auf die Straße zu gehen.

Zwar fanden in den vergangenen Tagen und Wochen Antikriegsproteste in ganz Russland statt, in der ersten Kriegswoche sind rund 7000 Menschen festgenommen worden. Von einem Massenprotest ist man aber noch weit entfernt. Ich glaube, dass die russische Führung diese politischen Proteste weniger fürchtet.

Glauben Sie, wenn nun die Wirtschaft Russlands nach unten geht, dreht sich das Bild?

Alexander Dubowy: Wovor die Regierung wirklich Angst hat, das sind soziale Unruhen. Dazu kann es kommen, wenn sich die wirtschaftliche Lage massiv verschlechtert. Angesichts dieser umfassenden Sanktionen, mit denen Russland konfrontiert ist, ist die Wahrscheinlichkeit für soziale Unruhen im Laufe dieses Jahres wesentlich höher, als es jemals zuvor der Fall war.

Der Protest wird ja aktiv unterdrückt. Kann er da überhaupt etwas bewirken, Einfluss auf Entscheidungen nehmen?

Alexander Dubowy: Die russische Zivilgesellschaft wurde in den vergangenen Jahren sehr geschwächt und hat keinen wirklichen Einfluss mehr auf die Politik der Regierung. Eine echte Wechselwirkung, einen Austausch zwischen der Gesellschaft und den politischen Eliten gab es ansatzweise in den Nullerjahren. Den gibt es nicht mehr.

So braucht die Regierung nicht einmal die Augen zu verschließen in diesem Sturm, sondern kann sich ganz auf die Überwindung der Folgen konzentrieren. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ihr das gelingt. Zwar hat Russland große Devisenreserven. Aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns immer noch mitten in der Pandemie befinden und die wirtschaftliche Lage allein aufgrund der Pandemie schon nicht unbedingt aussichtsreich ist. Umso schlimmer wird es durch die Sanktionen.

Aktuell gibt es eine ganze Serie von Boykotten und Verbindungsabbrüchen des Westens gegenüber Russland. Viele davon werden die normale russische Bevölkerung viel härter treffen als die Führung. Einige, wie der Boykott Russlands bei westlicher Musik oder Filmen, treffen sogar mehr nichteinverstandene, prowestliche Leute als "Patrioten", die sich um Putin scharen. Hat sich diese Sanktionswelle überhitzt und verselbstständigt?

Alexander Dubowy: Die Welle, mit der wir es diesmal zu tun haben, ist wesentlich größer, als sie es 2014 in der Krim-Krise war. Die aktuellen Sanktionen haben auch eine wichtige Besonderheit. Während die früheren Sanktionen von staatlicher Seite ergangen sind, haben wir nun nichtstaatliche Akteure, die eigenständig, ohne dass sie dazu von staatlicher Seite gezwungen wären, selbständige Sanktionen verhängen.

"Das ist eine Russophobie und birgt in sich große Gefahren"

Etwa die zahlreichen Unternehmen, die sich vom russischen Markt komplett zurückziehen - ohne dass man sie dazu aufgefordert hätte. Gleiches gilt im kulturellen Bereich, den Sie erwähnt haben. Die größte Gefahr, die ich darin sehe ist, dass die Stimmung allgemein gegen die Russen zunimmt.

Die Stimmung gegen die Politik Putins wird auf die einfachen Russinnen und Russen übertragen. Das ist eine Russophobie und birgt in sich große Gefahren. Sie kann auch dazu führen, dass sich die russische Bevölkerung, im Ausland geächtet, noch stärker um ihre Führung schart. So erreicht man mit so einem Verhalten genau das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt.

Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt noch eine Zukunft der unpolitischen Zusammenarbeit etwa zwischen Mitteleuropäern und Russen?

Alexander Dubowy: Nun, derzeit können wir das natürlich nicht abschließend beantworten. Wir müssen abwarten, wie lange der Krieg Russlands gegen die Ukraine dauert, welche Folgen er nach sich ziehen, wie viele zivile Opfer er fordern wird. Ich sehe aber ganz ehrlich gesagt für die zivilgesellschaftliche Kooperation mit Putins Russland eher schwarz. Das heißt, eine wirkliche Kooperation, einen Neuanfang mit Russland kann es nur in einer Zeit nach Putin geben.

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