Schlimmer als die Leprakolonie in Pakistan: Peeping Tom, der Film zum Runterspülen

Seite 2: Wahnsinn für alle

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Als Powell vorschlug, den Film Peeping Tom zu nennen, hatte Leo Marks Bedenken, weil er fürchtete, dass dieser Titel die falschen Leute anziehen werde. Powells Antwort: „Dann holen wir eben die falschen Leute genauso ins Kino wie die richtigen.“ In dieser Absicht ging er an die Arbeit. In „The Face of Horror“, seiner 1958 erschienenen Abrechnung mit den Hammer-Filmen, ereiferte sich Derek Hill noch über „die alarmierende Parade der Perversen und der Verrückten in den Schlangen vor den Kinos und in den Foyers“. Das Publikum von Christopher Lee und Peter Cushing fand er bedrohlich, und doch war er beruhigt, weil er seinen Artikel in dem Bewusstsein schrieb, zu den „richtigen Leuten“ zu gehören. Wenn Kritiker wie Hill The Curse of Frankenstein oder Dracula sahen, fühlten sie sich wie ein Anthropologe bei den Kannibalen oder ein Soziologe im Elendsviertel. Bei Powell, der „Widerstandsbewegung innerhalb der Filmindustrie“ (Marks), gelang das nicht. Dafür wurde er abgestraft. Peeping Tom wurde nicht mit Fäkalien, Geisteskrankheiten und der Leprakolonie verglichen, weil die Kritiker den Film nicht verstanden. Sie hatten zu gut verstanden, worum es Powell ging – wenn auch vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Isobel Quigly benannte recht gut, was Peeping Tom so skandalös machte:

Hochglanz-Horror hatten wir vorher auch schon […], aber noch nie einen so geschickt eingeflößten, unter die Haut gehenden Horror, und noch nie einen sich so einschmeichelnden Versuch, es aussehen zu lassen, als sei das kein Film für die Verrückten, sondern für ganz normale, einfache Kinogeher wie Sie und mich.

Powells Verbrechen bestand daran, dass er für die Nicht-Verrückten einen Film über einen Verrückten gedreht hatte. Für Isobel Quigly war das scheinbar so unerträglich, dass sie sich und ihren Lesern versichern musste, dass Peeping Tom doch ein – heimtückisch bemäntelter – Film für die Irren sei. Und die Irren versuchte man nicht zu verstehen, man sperrte sie weg. Das widerfuhr dann auch Peeping Tom. Powell seziert die Mechanismen des Filmemachens und der Kinoerfahrung, legt die dunklen Seiten der Kinematographie bloß. Gleichzeitig spürt man bei jeder Einstellung die große Zärtlichkeit, die er dem Medium gegenüber empfand. Mit derselben Zärtlichkeit behandelt er Mark Lewis, der nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Filmemacher ist, ein Künstler. Weil Powell auf ein paar unangenehme Wahrheiten aufmerksam machte und sich weigerte, zu verdammen, wurde er selbst verdammt.

Der Film beginnt in alter Archers-Manier mit dem Pfeil, der in das Zentrum einer Zielscheibe fliegt. Nur Emeric Pressburger wird nicht genannt, obwohl er indirekt beteiligt ist, weil Peeping Tom Themen aus The Red Shoes und Tales of Hoffmann wieder aufnimmt und konsequent zu Ende denkt. Dann füllt ein sich öffnendes Auge die Leinwand, und damit wird die erste, nicht eindeutig zu beantwortende Frage gestellt. Ist es das Auge des Regisseurs Michael Powell, der uns nun seine Sicht auf die Welt zeigen wird? Das Auge des Helden, der einen Film im Film dreht? Oder ist die Leinwand zum Spiegel geworden? Dann würde sie nur unseren Blick zurückwerfen, würde das Auge uns gehören, die wir wie Voyeure (Peeping Toms) im dunklen Vorführraum sitzen und auf das Spektakel warten, das uns dort geboten wird. Viele Anekdoten aus der Frühgeschichte des Films, als man sich noch an das neue Medium gewöhnen musste, erzählen davon, wie beunruhigend die leere Kinoleinwand ist, die uns anzustarren scheint, uns die Rolle des Beobachters streitig macht. Zur Beruhigung des Publikums wurde die leere Leinwand deshalb hinter einem Vorhang versteckt. Bis heute ziehen traditionsbewusste Vorführer den Vorhang erst zur Seite, wenn die ersten Bilder über die Leinwand laufen, sie also gefüllt und nicht mehr leer ist.

Eine Totale zeigt, wo wir uns befinden. Eine finstere Straße im Rotlichtviertel, gefilmt in Eastmancolor. 1960 hatten auch diese Farben etwas Verunsicherndes. Hammer hatte The Curse of Frankenstein in Eastmancolor gedreht, war aber schon bei Dracula zu Technicolor übergegangen. Technicolor galt als besonders künstlich, sorgte somit für Distanz zwischen Publikum und Leinwand. Im Spielfilm verband man die satten Farben mit der Vergangenheit, exotischen Schauplätzen, Kostümen aus einer anderen Zeit. Eastmancolor wirkte dagegen grell und schmutzig, erinnerte an die Umschläge von billigen Kriminalromanen und die Cover von Pornoheften. Wir befinden uns in Soho und wohnen der Anbahnung eines Geschäfts zwischen einer Hure und einem Freier bei. Sollten da noch Zweifel bestehen, ob so etwas in dieser Direktheit vorher schon in einem britischen Spielfilm zu sehen war, werden sie bald zerstreut sein.

Spülstein-Realismus

Den Freier sollte ursprünglich Laurence Harvey spielen. Powell hatte ihm die Rolle zu einer Zeit angeboten, als ihn fast nur Theatergänger kannten. Aber dann wurde er mit Room at the Top (1959), einem der ersten Spielfilme der britischen New Wave, zum Star und unterschrieb einen Vertrag in Hollywood. Die New Wave ging aus dem Free Cinema hervor, einer Bewegung, die von 1956 bis 1959 im National Film Theatre sehr einflussreiche Filmvorführungen veranstaltete und einen dokumentarischen Realismus progagierte. Die Exponenten des Free Cinema – Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson – drehten anschließend Spielfilme, die ebenfalls den dokumentarischen Ansatz verfolgten. Das den Werken der New Wave angeklebte Etikett beschreibt sie sehr gut: „kitchen sink realism“. Es sagt aber auch, dass die Neue Welle von Anfang an recht alt war, denn sie knüpfte an den bereits erwähnten John Grierson und den britischen Dokumentarfilm der 1930er an, jetzt eben mit Spielhandlung.

Grierson hatte programmatische Texte geschrieben, in denen er die Schaffung einer Nationalkultur forderte. Der dokumentarische Film über „normale Leute“ war für ihn ein Mittel, die nationale Einheit zu erreichen. Zu weit sollte es aber auch nicht gehen mit der Einheit. Mit „normal“ ist fast immer die Arbeiterschicht gemeint. Die von Grierson geprägten Filme nehmen eine Zweiteilung vor, die mit jener vergleichbar ist, mit der man versuchte, den Horrorfilm in den Griff zu kriegen. Der Mittelschicht wird mit den Mitteln der bürgerlichen Ästhetik vom harten Leben der Arbeiter berichtet. Damit bleibt der Sicherheitsabstand gewahrt. Letztlich gilt das auch für die Spielfilme der New Wave. In Room at the Top spielt Harvey einen jungen Mann aus dem Arbeiterviertel, dem der gesellschaftliche Aufstieg gelingt, indem er die Tochter des Chefs heiratet. Diesen Aufstieg bezahlt er mit Emaskulierung und Domestizierung.

Interessanterweise waren viele von den Kritikern, die Peeping Tom in Grund und Boden schrieben, von Room at the Top begeistert. Dieselben Leute, die Lobeshymnen auf die Regisseure der New Wave sangen, weil sie angeblich ein ungeschminktes Bild der Wirklichkeit zeichneten, scheinen nicht bemerkt zu haben, wie genau Peeping Tom die Mechanismen der britischen Klassengesellschaft registriert. Offenbar konnte sich auch niemand daran erinnern, dass Powell schon immer an Originalschauplätzen gedreht hatte (bei Peeping Tom setzt er das fort), was bei Room at the Top gefeiert wurde, als sei das Rad neu erfunden worden. Ich erkläre mir das so, dass diese Kritiker die Wirklichkeit mit der ästhetischen Kategorie des „Realismus“ gleichsetzten, und mit der in diesen seit den 1930ern eingeschriebenen Unterscheidung zwischen „wir“ (die Mittelschicht) und „die anderen“ (die Arbeiterklasse). Peeping Tom nützt jede Gelegenheit, klare Abgrenzungen aufzuheben, und das war genauso unerwünscht wie die kritische Hinterfragung des Mediums Film. Wenn man behauptet, dass der realistische Film die Wirklichkeit authentisch abbildet, will man nicht an das Instrumentarium erinnert werden, mit dessen Hilfe das geschieht. Man könnte dann nämlich auf den Gedanken kommen, dass auch der „Realismus“, der Liebling von Generationen britischer Kritiker, nur ein ästhetisches Konstrukt ist.

Sehr wichtig für den dokumentarisch geprägten Film der 1950er und 1960er war die Entwicklung neuer, leicht handhabbarer Kameras, mit denen man ohne große Vorbereitung und außerhalb der Studios drehen konnte. Die dem cinéma vérité, dem direct cinema verpflichteten Regisseure taten so, als belauschten sie für uns die Wirklichkeit. Powell zeigt, dass das gar nicht möglich ist, weil sich das Beobachtete durch den Akt des Beobachtens sofort verändert. Und er zeigt die Gewalt, die mit diesem Beobachten verbunden ist (das Licht des Scheinwerfers an Marks Kamera trifft die Gefilmten wie ein Schlag). Wir erleben das gerade bei der Diskussion um die mit phallisch emporragenden Apparaturen versehenen Kameraautos von Google Street View – ein Projekt, das viele als eine visuelle Vergewaltigung empfinden, als ein Eindringen in ihren Intimbereich. Wer intensiver darüber nachdenken will, sollte sich Peeping Tom anschauen.

Peeping Tom

Mark Lewis hat ständig seine 16mm-Kamera dabei, die fast zu einem neuen Körperteil geworden ist (sehr deutlich wird das, wenn ein Teil des Stativs vor einem der Opfer aufragt wie ein eregiertes Glied). Die Prostituierte Dora sehen wir durch das Objektiv dieser Kamera. So macht uns Powell darauf aufmerksam, dass da einer ist, der den Apparat bedient, den Bildausschnitt bestimmt und festlegt, wie der abgefilmte Körper zerteilt wird. Das Zerschneiden von Körpern, diesen unheimlichen Aspekt der Kinematographie, nehmen wir kaum mehr wahr, weil wir uns daran gewöhnt haben und er durch die von Hollywood perfektionierten Regeln des „unsichtbaren Schnitts“ (invisible editing) kaschiert wird. Powell macht die Zerstückelung wieder sichtbar, indem er die Prostituierte vor ein mit Teilen von Schaufensterpuppen dekoriertes Ladenfenster stellt. In einem Interview mit der französischen Zeitschrift Midi-Minuit Fantastique sagt er:

Ich halte die Kamera für etwas ziemlich Beängstigendes. Ich spüre das auch selbst. H.G. Wells, Ray Bradbury und Arthur Clarke haben alle versucht, sich Maschinen des Schreckens auszudenken, aber das ist sehr schwer. Ich glaube nicht, dass es etwas Beängstigenderes gibt als eine Kamera – eine laufende Kamera, die einen beobachtet.

Um das zu verdeutlichen, um das Verdrängte zurück in unser Bewusstsein zu holen, macht er die Kamera zum Mordinstrument. Zur Erinnerung daran, wie unangenehm es ist, fremden Blicken ausgesetzt zu sein, schaut uns die Frau im Sucher direkt an. Wie nebenbei wird damit zugleich entlarvt, dass das, was uns als authentische Abbildung der Welt verkauft wird, nur ein bestimmten Regeln gehorchendes Konstrukt ist. Innerhalb der realistischen Filmästhetik ist der Blick in die Kamera eine Todsünde. In jedem Regelbuch kann man das nachlesen. Der Dokumentarfilmer Harry Watt, ein Protege von John Grierson, benannte sogar seine Memoiren nach diesem Gebot: Don’t Look at the Camera. Wenn jemand (im Spielfilm der Schauspieler) in die Kamera blickt, statt so zu tun, als wüsste er nicht, dass er gefilmt wird, ist das „unrealistisch“.

Szenen aus der Arbeitswelt

Die Kamera folgt der Prostituierten in eine billige Absteige. Dort beginnt die Frau, sich auszuziehen. 1960 war das unerhört. Ein paar Jahre später, in Frankreich, wurde der Verkauf der Nummer der Midi-Minuit Fantastique, in der Bilder von der Szene abgedruckt waren, behördlich untersagt; ein Teil der Auflage wurde vernichtet. Den nackten Körper der Frau sehen wir nur deshalb nicht, weil sie von Mark Lewis umgebracht wird, bevor sie sich ganz entkleidet hat. Wenn die Szene nicht so direkt wäre, wenn sie nicht auf die branchenüblichen Tarnmaßnahmen verzichten würde, hätte sie eigentlich jenen Zensoren Freude bereiten müssen, die Gewalt gegen Frauen bereitwilliger akzeptieren als Sex und Nacktheit (nur geschmackvoll muss es sein).

Peeping Tom

Auch die Kritiker hätten Grund zur Zufriedenheit gehabt. Denn Powell zeigt auf sehr realistische, im britischen Kino so nie dagewesene Weise eine Szene aus dem Arbeitsleben einer Hure (ein ungeschminktes Bild der Realität, das an Room at the Top so gelobt wurde), und er liefert sogar die von den damaligen Kritikern immer geforderte Thematisierung der Klassengegensätze. Allerdings braucht er dafür keine Sozialromantik mit Spülstein und keine aus der Fabrik kommenden Arbeiter. Ihm genügen ein paar gut gewählte Details und das Englisch der Prostituierten, an dem man sofort erkennen kann, dass sie zur Unterschicht gehört (der Freier dagegen nicht).

Nach dem ersten Mord sehen wir Mark in seinem Allerheiligsten: einem Zimmer, das zugleich Alchemistenküche und mit modernsten Geräten ausgestattetes Filmlabor ist. Dort sind alle Teile des kinematographischen Apparats versammelt: die Kamera, das Labor zur Filmentwicklung, Leinwand und Projektor. Wir sehen Mark dabei zu, wie er sich den inzwischen geschnittenen Film von Doras Ermordung ansieht, und Dora blickt uns dabei an wie sie Mark anblickt. Sie ist tot und irgendwie doch auch wieder lebendig. An die Stelle von Zweiteilung und Ausgrenzung setzt Powell die Doppelung, lässt er Bereiche zusammenfallen, von denen üblicherweise so getan wird, als wären sie getrennt. Filmbilder sind nicht umsonst mit in Bernstein eingeschlossenen, für die Ewigkeit konservierten Insekten verglichen worden. Im Film wird ein Moment festgehalten, der mit dem Ende der Aufnahme vorüber ist. Anschließend aber, bei der Projektion, wird der Vergangenheit in die Gegenwart geholt, werden Tote lebendig wie Marks Opfer auf seiner Leinwand.

Peeping Tom

Wenn es nach Powell gegangen wäre, hätte man Peeping Tom in Frankreich nicht als Le Voyeur verliehen, sondern als Le Cineaste, weil der Held alles dafür gibt, den perfekten Film zu drehen. Für ihn, sagt Powell in einem Interview, sei Mark Lewis kein Mörder, sondern ein Kameramann. Einmal sehen wir ihm dabei zu, wie er den Film von Vivians Ermordung entwickelt. Der Film, die Illusion von Leben und Bewegung, wird dabei auf seine Grundelemente zurückgeführt: viele starre Einzelbilder, Tod statt Leben. Die Reflektion über das Wesen der Kinematographie wird auf die Spitze getrieben, als Mark der blinden Mrs. Stephens den Film von Vivs Sterben vorführt. Powell gewinnt sogar dem Uralt-Klischee von der Blinden, die das Innere der Menschen sehen kann, noch etwas Neues ab. Dabei gelingen ihm Einstellungen, die man so nur in einem Avantgarde-Film erwarten würde und nicht in einem – nach Ansicht der Kritiker – zynischen Kommerzprodukt. Erzählt wird die Geschichte einer Perversion. Aber erzählt wird auch von der Schaulust, ohne die es kein Kino geben würde. Dabei ist nicht immer klar, wo das eine endet und das andere beginnt. Das macht Peeping Tom bis heute so verstörend.

Peeping Tom

Die Grenzverwischung geschieht auf allen Ebenen: Gesehen und Gesehenwerden, Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion, verrückt und normal, Klassenzugehörigkeit. In seinem Brotberuf arbeitet Mark als Kameraassistent an einem fiktiven Film, der in den echten, zum Rank-Imperium gehörenden Pinewood Studios gedreht wird. Der infolge einer Kriegsverletzung weitgehend erblindete (!) Archers-Veteran Esmond Knight spielt den Regisseur Arthur Baden (zusammengesetzt aus Arthur Rank und dem Oberpfadfinder Baden Powell, womit auch noch der Regisseur von Peeping Tom in dem Namen versteckt wäre), der einen jener belanglosen, sattsam bekannte Muster variierenden Filme dreht, mit denen die Produzenten Ende der 1950er sichere Gewinne zu machen hofften und doch nur die – kommerzielle wie künstlerische – Krise des britischen Kinos verschärften.

Peeping Tom

Im lediglich an der Einhaltung des Budgetplans interessierten Studioboss Don Jarvis ist unschwer John Davis zu erkennen, der vom Buchhalter zum Nachfolger von Arthur Rank aufgestiegene Intimfeind von Michael Powell. Das Ex-Model Shirley Anne Field, die in Horrors of the Black Museum wider Willen gezeigt hatte, eine wie schlechte Schauspielerin sie war, spielt die miserable Hauptdarstellerin in Arthur Badens Machwerk, während für die wunderbare Moira Shearer nur die Rolle des Körperdoubles bleibt. Anschließend ahmte die Realität die Fiktion nach. Shirley Anne Field erhielt dank Peeping Tom die weibliche Hauptrolle im New Wave-Drama Saturday Night and Sunday Morning und wurde ein Kinostar. Für Moira Shearer hatte der britische Film keine Verwendung mehr.

Auch Pamela Green, Gefährtin und Geschäftspartnerin des Erotik-Photographen Harrison Marks, spielt sich selbst. Marks ist nicht mit Leo dem Drehbuchautor verwandt, aber ebenfalls ein potentieller Namenspatron von Mark Lewis. Er war Britanniens wichtigster Hersteller von „Glamour-Photos“. Das waren Bilder mit leicht oder gar nicht bekleideten Damen in erotischen Posen, die Marks in Akt-Magazinen wie dem legendären Kamera veröffentlichte, aber auch in Form von Einzelabzügen oder im Sammelalbum verkaufte wie der Zeitschriftenhändler in Peeping Tom. Pamela hatte bereits in einigen unter dem Ladentisch vertriebenen und nur im privaten Kreis vorgeführten „Naturalisten-Filmen“ mitgewirkt; diese sich dokumentarisch gebenden Softpornos berichteten vom Leben der Nudistinnen, um nackte Frauen beim Nacktsein zeigen zu können. Mit ihrem Auftritt in Peeping Tom schrieb sie Kinogeschichte: als erste Nackte in einem britischen Spielfilm.

Film und Prostitution

Sehr typisch für Peeping Tom ist die Szene mit dem von Miles Malleson gespielten Kunden im Zeitschriftenladen. Malleson war auf ältere, etwas seltsame Herren aus den besseren Kreisen spezialisiert und die ideale Besetzung, weil er gleich deutlich machte, dass hier einer in den Laden kommt, der gesellschaftlich über dem zur unteren Mittelschicht gehörenden Händler gehört. Powell bietet hier eine sehr präzise Milieustudie, deren Komik ins Sinistre umschlägt, als ein kleines Mädchen in den Laden kommt, um Süßigkeiten zu kaufen. Das ist so mehrdeutig wie alles andere in Peeping Tom. Das Erscheinen des Mädchens fügt dem Verkauf und Erwerb von pornographischen Photos eine unschuldige, alltägliche Komponente hinzu. Aber das Mädchen könnte auch ein zukünftiges Aktmodell sein, oder sogar das Opfer eines Kinderschänders, der ihm Süßigkeiten anbietet. Weil alles möglich ist, lässt sich nichts ausgrenzen. Das ist beunruhigend. Am Ende der Szene verlässt der Kunde den Laden mit der Times und dem Telegraph. Zwischen den beiden konservativsten Zeitungen des britischen Establishments steckt das Album mit den nackten Frauen. Peeping Tom ist auch ein Film über die Heuchelei.

Peeping Tom

Mit den Aktphotos bessert Mark sein Gehalt auf. Zwischen ihm und Milly, dem von Pamela Green gespielten Modell, kommt keine erotische Spannung auf. Auch das sind Szenen aus der Arbeitswelt, und wahrscheinlich wurden sie deshalb als so empörend empfunden. Dieser Film über den Voyeurismus hat ein sehr nüchternes, wenig stimulierendes Verhältnis zur Abbildung von Frauenkörpern und ist für Spanner nicht geeignet. Powell moralisiert nicht und deutet nicht mit dem Finger auf seine Figuren. Jede von ihnen hat ihre Gründe für das, was sie tut. Und über allem schwebt die Frage, wer sich mehr prostituiert: die Huren und die Aktmodelle oder die Angehörigen einer Filmindustrie, die Sachen herstellt wie das von Arthur Baden in Pinewood heruntergekurbelte Drama mit Shirley Anne Field, in dem Ramschware zum Schleuderpreis angeboten wird?

Peeping Tom

Wo andere die Fassade zeigen, wirft Powell einen Blick dahinter. Zum Photo Shooting wird nicht etwa Kokain oder wenigstens Schnaps gereicht, sondern eine Tasse Tee. Von dieser braunen Flüssigkeit schneidet Powell auf den braunen Whisky im Glas der gutbürgerlich lebenden Mrs. Stephens, einer Alkoholikerin. In Peeping Tom gibt es nur einige wenige der damals bei Schauplatzwechseln üblichen Orientierungshilfen für das Publikum: Einstellungen mit Figuren, die den einen Ort verlassen oder den anderen erreichen. Powell bevorzugt rasche Übergänge wie diesen Schnitt auf den Whisky, weil so die in anderen Filmen der Zeit fein säuberlich getrennten Bereiche eng zusammenrücken. Zwischen dem Laden mit den schmutzigen Bildern in Soho und dem Haus im wohlanständigen Kensington liegt nur ein Filmschnitt. Zum Verzicht auf die von hier nach da gehenden Darsteller liefert Powell den ironischen Kommentar, indem er Mrs. Stephens eine Flasche Johnny Walker auf den Tisch stellt. Der Tag geht, und Mark Lewis kommt. Gerade noch in Soho mit der Herstellung von Pornobildern beschäftigt, steht er jetzt schon draußen vor dem Fenster des Hauses in Kensington und schaut in das Zimmer, in dem die Bürger den 21. Geburtstag von Helen feiern.

Peeping Tom

Die Distanz zwischen Bürgertum und Unterschicht ist nicht nur filmtechnisch stärker geschrumpft, als es den ebenfalls bürgerlichen Kritikern lieb sein konnte. Um das Haus seines Vaters halten zu können, muss Mark Zimmer vermieten. Die Mieter haben ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen und können sich das Wohnen in der Melbury Road (immerhin gleich gegenüber von Michael Powell) nur leisten, weil der geschäftsuntüchtige Mark die ortsüblichen Preise nicht kennt. Überall in diesem roten Ziegelhaus spürt man die Gefahr des sozialen Abstiegs. Helen könnte – falls der melodramatische Gedanke erlaubt ist – genauso leicht in der Gosse landen wie das kleine Mädchen im Zeitschriftenladen. Diesen Laden am Rathbone Place in Soho gibt es da heute noch. Vom Photostudio im ersten Stock schaut Mark hinunter auf den Anfang der Percy Street, wo sich damals ein bei Filmleuten sehr beliebtes Restaurant befand, in dem Powell in alten Archers-Zeiten mit Arthur Rank neue Projekte besprochen hatte, als der Firmengründer noch Chef der Pinewood Studios war und nicht sein Buchhalter. A Very British Psycho, eine sehr gute Channel Four-Dokumentation von 1997, fügt eine weitere Reflektionsebene hinzu, wenn Leo Marks, Drehbuchautor und Ex-Geheimdienstler, im realen London an der Stelle steht, von der aus ein Film-Polizist Mark Lewis beschattet.

Peeping Tom, A Very British Psycho

In Aufsätzen wird ab und an gemutmaßt, dass die Kritiker mehr Verständnis für Peeping Tom gezeigt hätten, wenn ihnen aufgefallen wäre, dass der vermeintliche Schmuddelfilm ein selbstreflexives, in vielfältige Verweise auf die Filmindustrie eingebettetes Werk ist. Ich würde sagen, das Gegenteil war der Fall. Auch Kritiker sind im Kino zunächst einmal nur Zuschauer. Kein Voyeur hat es gern, wenn sein Blick reflektiert wird, man seine Anwesenheit bemerkt, er womöglich mit einem Frauenmörder in Verbindung gebracht wird. Bestimmt geriet Caroline Lejeune vom Observer nicht in freudige Erregung, als sie hören musste, wie sich Mark Lewis als Mitarbeiter ihrer ehrwürdigen Sonntagszeitung ausgibt (die älteste in Großbritannien). Weil diese Szene schon nach knapp fünf Minuten kommt ist anzunehmen, dass Ms. Lejeune da noch nicht gegangen war, um den Verriss zum Film zu schreiben, den sie nicht ganz gesehen hatte (dass zwei der vernichtendsten Urteile über Peeping Tom im Observer und im Spectator erschienen, ist auch nicht ohne Ironie).