Schlimmer als die Leprakolonie in Pakistan: Peeping Tom, der Film zum Runterspülen

Seite 3: Ein wunderbarer Film

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Powell war ein Bewunderer von Fritz Lang, seit er in den 1920ern Die Nibelungen gesehen hatte. Peeping Tom ist seine Version von M, wo wir am Ende Mitleid mit Peter Lorre haben, obwohl er einen Kindermörder spielt. Um das hinzukriegen, braucht man ein hervorragendes Drehbuch, einen erstklassigen Regisseur und eine große schauspielerische Leistung. Karlheinz Böhm ist auch bei Fassbinder sehr gut (Martha), war aber vielleicht nie besser als hier. Er spielt den Mörder mit so viel Einfühlungsvermögen und Sanftheit, dass es auch den Kritikern nicht gelang, Mark Lewis auf Distanz zu halten. Den Film machte das noch ärgerlicher.

Karlheinz Böhm, bei uns nach den Sissi-Filmen ein Aushängeschild des Schnulzenkinos, kannte in Großbritannien niemand. Seine Anwesenheit in Peeping Tom war beunruhigend. „Jemand meinte“, schreibt Isobel Quigly in ihrem Verriss,

dass man die Absurdität, einen deutschen Darsteller mit starkem Akzent einen britischen Helden spielen zu lassen, möglicherweise mit der Idee erklären kann, dass niemand einen einheimischen Jungen gern in einer solchen Rolle sehen würde, dass es aber, falls sie auf jemand anderen (im Idealfall auf einen Deutschen) abgeschoben werden könnte, tröstlich sein würde zu wissen, dass der Held zwar in der Geschichte ein gebürtiger Londoner ist, im „wirklichen Leben“ aber […] ein Außenseiter, was man sofort weiß […] wenn er den Mund aufmacht, um ein Wort zu sagen.

Wenn schon ein verrückter Frauenmörder, dann bitte als Monster und nicht als jemand wie du und ich. Graf Dracula wäre akzeptabel gewesen, oder ein Deutscher, und jedenfalls „ein Außenseiter“. Das Problem ist aber, dass Karlheinz Böhms Akzent gar nicht so stark ist, wie Ms. Quigly behauptet. Er spricht nicht so, wie man es von Nazis und anderen Deutschen gewohnt ist. Sein Englisch ist hervorragend; am Satzrhythmus und an der Art der Wortbetonung erkennen Briten trotzdem den Deutschen (bzw. Österreicher). Mark Lewis spricht Englisch wie ein Engländer und doch auch wieder nicht. Wer aber ausgrenzen will, braucht eindeutige Zuordnungen. Bei Mark geht das nicht. Quigly schreibt an anderer Stelle sogar, dass er „liebenswert“ sei. Sie und ihre Kollegen fanden das empörend. Mark Lewis hätte ein Schurke aus dem Melodram sein müssen, vielleicht mit Schlapphut und vernarbtem Gesicht, oder mit einem Buckel. Dann hätten sich die Kritiker ihr Überlegenheitsgefühl bewahren und sich über den nächsten dummen Horrorfilm mokieren können, mit dem kulturlose Geschäftemacher das Publikum für dumm verkauften. Peeping Tom passte in keine Schublade – daher die Wut in den Verrissen.

Peeping Tom

Ich schreibe so ausführlich über Peeping Tom, weil der Umgang mit diesem Film wichtige Fragen aufwirft. Welche Verantwortung haben Kritiker und Zensoren? Wird ein solcher Film aufbewahrt und wenn ja, von wem? Wird er von den Eigentümern an den Höchstbietenden verscherbelt, oder wird er entsorgt wie Abfall? Steht Peeping Tom stellvertretend für andere Filme, die ihrer Zeit voraus waren und die wir heute als Meisterwerke wiederentdecken würden, wenn man sie noch sehen könnte? Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit muss man das annehmen. Doch wie viele sind es? Das weiß niemand. Den Fall Peeping Tom kann ich hier nur schildern, weil Michael Powells Film doch nicht, wie gefordert, in die nächste Kloake gekippt wurde, oder zumindest nicht so, dass er unwiederbringlich verloren gewesen wäre. Anderen Filmen könnte genau das widerfahren sein. Für Peeping Tom gab es ein spätes Happy Ending. Das heißt nicht, dass andere Filme dasselbe Glück haben. Der Spruch, dass sich Qualität auf Dauer immer durchsetzt, ist naiv.

Wie ging es also weiter mit Peeping Tom? In seiner Autobiographie beschreibt Powell das für ihn ideale Verhalten der Produktionsfirma:

Würden Sie nicht auch denken, dass sie ein bisschen Geld ausgegeben, Anzeigen in der Zeitung geschaltet und hineingeschrieben hätten: „Das sagen die Kritiker über unseren wunderbaren Film. Jetzt kommen bitte Sie, das Publikum, um sich selbst ein Bild zu machen und zu sehen, was das für ein wunderbarer Film ist, und was für miserable Kritiker wir haben.“

Tatsächlich wollte Nat Cohen, der Chef der Anglo-Amalgamated, den Film nur noch loswerden. In A Very British Psycho behauptet Alexander Walker, Kritiker des Evening Standard, dass solche Verrisse doch eine gute Reklame seien. Das ist nichts weiter als eine Beschimpfung des Publikums, das angeblich in Scharen kommt, wenn die Kritiker einen Film schlecht finden. Meistens läuft es ganz anders ab. Erschrocken über die Heftigkeit der Anfeindungen, zog Cohen den Film zurück. Meines Wissens war er innerhalb einer Woche nach der desaströsen Premiere im Plaza aus allen britischen Kinos verschwunden. Man konnte ihn auch nicht mehr buchen, weil die A-A den Film aus ihrem Verleihprogramm genommen hatte. Schließlich verscherbelte Cohen das Negativ an eine Firma, die unter anderem den Schwarzmarkt für Pornofilme belieferte und mit diversen Schmuddelkinos geschäftlich verbunden war. Peeping Tom war nun da gelandet, wo er nach einstimmiger Kritikermeinung hingehörte.

Pamela Green gab die Unschuld vom Lande, die ein böser Regisseur namens Michael Powell mit List und Tücke dazu gebracht hatte, sich auszuziehen. Sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, was die Hüter der Tugend und der Filmkunst hören wollten. Nach der Wiederauferstehung des Skandalfilms als Meisterwerk bekannte sie sich zu ihrer Vergangenheit und tat so, als ob das schon immer so gewesen wäre (mehr zum in diesem Mai verstorbenen „Kamera Girl“ auf ihrer Website). In A Very British Psycho finden sich noch Reste ihrer alten Schauergeschichten. Da erfährt man, dass Powell seine beiden kleinen Söhne mitbrachte, als die Nacktszene gedreht wurde. Am Fuße der Kamera sitzend, durften sie sich an Pamelas nackten Brüsten ergötzen. Sonstige Belege für Powells Bemühungen, es Prof. Lewis gleichzutun und seine Kinder zu Voyeuren auszubilden, sind mir nicht bekannt. Man bleibt also mit der Frage allein, ob das wirklich so stattfand oder ob Pamela beim Interview schlicht vergessen hatte, dass Powell inzwischen ein Meisterregisseur ist und nicht mehr der Perverse von früher, der für andere Perverse den Film Peeping Tom gedreht hatte. Harrison Marks verkaufte in den 1960ern Postkarten mit einer barbusigen, wie eine obszöne Schaufensterpuppe aussehenden Pamela Green im Peeping Tom-Kostüm. Im allgemeinen Bewusstsein wurden diese Postkarten zum Teil eines Skandalfilms, den kaum jemand gesehen hatte.

Die Rechnung wird präsentiert

Beruflich erholte sich Michael Powell zeitlebens nicht mehr von dem Skandal. Besonders dem zweiten Teil seiner Memoiren (den er vermutlich gekürzt hätte, wenn er gesundheitlich noch dazu in der Lage gewesen wäre) merkt man an, wie sehr er auch persönlich verletzt war. Die bösartigen, um nicht zu sagen neurotischen Reaktionen auf Peeping Tom erklärte er sich auch damit, dass viele Kritiker die Gelegenheit nützten, um mit seinem Werk insgesamt abzurechnen, mit den schwer einzuordnenden, als irgendwie unbritisch, zu künstlerisch, zu flamboyant, zu wenig realistisch und zu unangepasst empfundenen, in Zusammenarbeit mit Emeric Pressburger entstandenen Archers-Filmen:

Vom Standpunkt der Kritiker aus muss das ein Albtraum gewesen sein. Kein Wunder, dass sie, als sie mich mit Peeping Tom allein und weit draußen auf einem Ast sitzend erwischten, diesen Ast voller Schadenfreude absägten und dann auf der Leiche herumhüpften. Aha, es war also doch Powell die ganze Zeit über? Wir hatten Emeric Pressburger und seinen europäischen Hintergrund im Verdacht, aber jetzt wissen wir, dass es Powell war, der Sadist, der den Mädchen Leim in die Haare geschüttet hat, und der eimerweise Blut über Moira Shearer verspritzt hat, als sie auf den Schienen lag und man ihr hätte erlauben müssen, sauber und ordentlich zu sterben wie eine britische Ballerina. Los, holen wir ihn uns! Und ist ihnen das gelungen? Und ob.

Tatsächlich fällt auf, wie oft in den Verrissen der Hinweis auf frühere Filme kommt und auch darauf, dass der jeweilige Kritiker schon länger eine schlimme Ahnung mit sich herumgetragen habe, die sich nun, mit Peeping Tom, bewahrheitet habe. So ließen sich auch Colonel Blimp, Black Narcissus oder The Red Shoes in Misskredit bringen. Besonders der Glueman in A Canterbury Tale – einem Film, der seit 15 Jahren praktisch nicht mehr zu sehen gewesen war – scheint einen Nerv getroffen zu haben.

Drei Monate nach der Uraufführung von Peeping Tom lief Psycho in Großbritannien an. Dadurch schien sich ein Trend zum Psychopathen-Film anzudeuten, den es zu bekämpfen galt. Davon betroffen war Peeping Tom. Psycho wurde zum Kassenschlager. Hitchcock hatte den Vorteil, ein großes Studio und einen mächtigen Verleih im Rücken zu haben. Außerdem hatte er gelernt, die schwer verdaulichen Botschaften seiner Filme gefällig zu verpacken. Am Schluss von Psycho tritt ein Psychiater auf, der analysiert, warum Norman Bates gemordet hat. Die Erklärung (Norman hat einen Ödipuskomplex, oder so ähnlich) ist genauso unsinnig wie das, was Leute wie Dr. Wertham über die Comics zu sagen hatten. Hitchcock macht durch die Inszenierung deutlich, was von solchen Ausführungen zu halten ist. Im überfüllten Büro des Sheriffs, in dem der Psychiater seinen Vortrag hält, wird viel geschwitzt. Offenbar funktioniert der Ventilator nicht. Es muss viel heiße Luft geben in diesem Büro.

Weil wir aber glauben, was wir glauben möchten, konnte jeder, der eine beruhigende Erklärung haben wollte, mit dem Gefühl nach Hause gehen, eine solche bekommen zu haben (Norman ist verrückt und hat nichts mit uns zu tun). Auch Powell bietet einen Psychiater auf, tut aber gar nicht erst so, als ob dieser Herr die gewünschte Distanz zwischen uns und Mark Lewis schaffen könnte. 1960 war das viel zu direkt. Peeping Tom verschwand im Untergrund. Jahrelang gab es nur mehr oder weniger verstümmelte 16mm-Kopien, in Schwarzweiß oder mit verblassten Eastman-Farben. Seit der Restaurierung kann man die eindrucksvolle Farbdramaturgie wieder richtig erkennen, was einen noch mehr am Urteilsvermögen der damaligen Kritiker zweifeln lässt. Grund zur Selbstgerechtigkeit gibt es aber nicht. Niemand kann heute sagen, wie er damals auf einen so mutigen und radikalen Film reagiert hätte.

Als Peeping Tom 1960 kurz im Plaza lief, steckte Powell schon mitten in den Arbeiten am völlig misslungenen The Queen’s Guards, von dem er hinterher selbst nicht mehr wusste, warum er ihn gedreht hatte. Nach dem Skandal konnte er in Großbritannien keinen Spielfilm mehr realisieren. Unbedingt sehenswert ist Herzog Blaubarts Burg (1963), eine vom Süddeutschen Rundfunk co-produzierte, ein paar Mal ausgestrahlte und dann verschwundene TV-Adaption der Oper von Béla Bartók. Ob man beim SWR noch weiß, welchen Schatz man – hoffentlich – im Archiv hat? Man könnte den einstündigen Film zusammen mit Peeping Tom zeigen, in dem das Blaubart-Motiv eine wichtige Rolle spielt. Helen erhält einen symbolischen Schlüssel und erforscht dann, angetrieben von weiblicher Neugier, das Geheimnis von Marks Zimmer. Weil dieses Zimmer ein Filmlabor ist, hängen die toten Frauen nicht am Haken, sie sind eingefroren in Zelluloid. Auf der Leinwand erwachen sie wieder zum Leben. Eine Frankenstein-Geschichte ist Peeping Tom auch. Wie jeder Film.

Während Powell unermüdlich neue Kinoprojekte plante, musste er froh sein, Arbeit beim Fernsehen zu finden. 1963/64 inszenierte er drei Episoden der britischen Reihe Espionage. Am besten ist A Free Agent, ein komplexes Verwirrspiel um Identitäten nach einem Drehbuch von Leo Marks. 1966, nach Jahren der Vorbereitung, konnte Powell in Australien die Komödie They’re a Weird Mob realisieren, für die sein alter Freund und Partner Emeric Pressburger (als „Richard Imrie“) das Drehbuch geschrieben hatte. In Australien war die Geschichte des aus Italien eingewanderten Journalisten, der Bauarbeiter wird und nach Irrungen und Wirrungen sein Glück findet, ein großer Erfolg. Das Geld für einen weiteren Film konnte Powell zunächst trotzdem nicht auftreiben.