Schlimmer als die Leprakolonie in Pakistan: Peeping Tom, der Film zum Runterspülen

Seite 4: Wiederentdeckt

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Age of Consent (1969) entstand nur, weil James Mason die Hauptrolle übernahm und neben Powell als Produzent firmierte. Das überzeugte einige Investoren. Mason spielt einen Maler, der in seine australische Heimat zurückkehrt, auf einer einsamen Insel vor der Küste Ruhe und Inspiration sucht und letztere auch findet, weil er die junge Cora trifft. Eine Geschichte vom Erwachsenwerden und auch wieder eine Reflektion über die Beziehung zwischen Kunst und Leben, das heitere Gegenstück zu Peeping Tom, souverän und mit viel Toleranz den Figuren gegenüber inszeniert. Powells Rückkehr zum Pantheismus und zum Zauber der Natur; mit grandiosen Unterwasseraufnahmen von der damals noch nicht verschmutzten Korallenwelt des Great Barrier Reef, durch die eine blutjunge Helen Mirren schwimmt (in ihrer ersten Filmrolle).

Age of Consent

Wer diesen Film nicht mag, ist selber schuld. Leider kann man den amerikanischen Verleiher nicht mehr zur Rechenschaft ziehen, der Peter Sculthorpes balinesisch angehauchte Musik (angeblich nicht kommerziell genug) durch ein blödes Gedudel ersetzte. Weil Helen Mirren nackt Modell steht (bzw. schwimmt), wurde der Film natürlich auch verstümmelt. Gleich die ironische Anfangssequenz musste weg, weil da (gemalte) Frauenakte zu sehen sind und Cora die Figur aus dem Columbia-Logo nachstellt. Age of Consent ist Michael Powells letzter Kinofilm. In seiner Autobiographie erzählt er von vielen faszinierenden Projekten, die in der Vorbereitungsphase scheiterten. Am traurigsten ist, dass Powell und Mason trotz mehrerer Anläufe nicht das Geld für eine Verfilmung von Shakespeares magischstem Stück auftreiben konnten, The Tempest. Age of Consent, wo Mason eine Prospero-Figur spielt, lässt ahnen, wie das hätte werden können.

Age of Consent

Wer Glück hatte, bekam in den 1960ern eine von den wenigen, oft schwarzweißen und fast immer gekürzten 16mm-Kopien von Peeping Tom zu sehen (in manchen Fassungen fehlten 20 Minuten und mehr). Am meisten Zuspruch fand der Film in den ersten Jahren noch in Frankreich. Offenbar erschien 1960 nur eine einzige positive (und sehr kluge) Kritik; Jean-Paul Török schrieb sie für die französische Zeitschrift Positif. 1964 interviewte der spätere Regisseur Bertrand Tavernier Powell für eine Nummer der Midi-Minuit Fantastique, in der ein Dossier zu Peeping Tom (mit vielen Bildern) enthalten war und die zensuriert wurde. 1965 drehte Roman Polanski (auch so ein Perverser) Repulsion. Dem Film sieht man an, dass Polanski Peeping Tom gut kannte. Wollte man aufzählen, was seither alles von Powells Meisterwerk beeinflusst wurde, hätte man gleich eine lange Liste.

Bevor es Videokassetten und DVDs gab, konnte ein Regisseur sehr schnell in Vergessenheit geraten, wenn seine alten Filme nicht mehr im Kino liefen und er keine neuen drehte oder diese keinen Verleih fanden. Als Powell Age of Consent inszenierte, wurde sein Name noch mit dem Skandalfilm verbunden, aber viele wussten schon nicht mehr so genau, wer Michael Powell war. 1970, als die Archers in Büchern zum britischen Film entweder gar nicht erwähnt oder mit ein paar hämischen Bemerkungen abgetan wurden, veröffentlichte Raymond Durgnat A Mirror for England, in dem viele kluge Sachen über Powell und Pressburger stehen. 1971 wurden die beiden in Großbritannien wiederentdeckt, als das British Film Institute 14 Archers-Produktionen zeigte. Jetzt zahlte es sich aus, dass die Archers dem BFI Kopien von vielen ihrer Filme übergeben hatten, die dort sorgfältig aufbewahrt wurden (in Archiven keine Selbstverständlichkeit). 1978 organisierte Ian Christie für das BFI eine große Retrospektive mit allen damals noch auffindbaren Regiearbeiten von Michael Powell. Das gab auch in andern Ländern den Anstoß zu Retrospektiven. 1982 zeigte das Münchner Filmmuseum alles, was es auftreiben konnte. Dazu erschien ein schönes Begleitheft (Living Cinema: Powell & Pressburger).

Die Erinnerung an den irgendwie verbotenen oder jedenfalls fast nie aufgeführten Peeping Tom wurde durch Mund-zu-Mund-Propaganda wachgehalten, besonders unter jungen Filmemachern. Jim McBride, Regisseur des sich über das cinéma vérité lustig machenden David Holzman’s Diary (und später des powellesken Uncovered), erzählte Martin Scorsese davon, und so sprach sich allmählich herum, dass es da diesen Film gab, den man unbedingt gesehen haben musste. Für Brian De Palma war der Film genauso wichtig wie Rear Window und Vertigo von Hitchcock. In den USA wurde Michael Powell wiederentdeckt, weil er der Regisseur von Peeping Tom war, was wiederum Peeping Tom zugute kam.

1977 erhielt Powell die Einladung, auf dem Festival von Telluride in Colorado einige seiner Filme zu präsentieren. Er entschied sich unter anderem für Peeping Tom. Das Publikum war begeistert, obwohl scheinbar nur eine stark gekürzte Fassung gezeigt werden konnte. 1979 lief der Film beim New York Film Festival. Das war das erste Mal, dass in den USA die „ungekürzte“ Originalfassung gezeigt wurde. Vermutlich fehlten da immer noch ein oder zwei Minuten, vielleicht auch mehr. Eingriffe der Zensur haben oft ein langes Leben. Manches in Peeping Tom ergibt erst einen Sinn, wenn man weiß, dass Mark Lewis seine Opfer zwingt, sich selbst beim Sterben zuzusehen, indem er über dem Kameraobjektiv einen Spiegel anbringt. In Deutschland – und nicht nur da – wurde dieser Spiegel herausgeschnitten. Diese zensurierte Fassung lief noch vor einigen Jahren im Fernsehen. Niemand hält es in solchen Fällen für nötig, uns, die Zuseher und Gebührenzahler, darüber aufzuklären.

Peeping Tom

Es scheint auch niemand ganz genau zu wissen, ob die restaurierte, jetzt auf DVD greifbare Version des Films vollständig ist. Ich bin mir zum Beispiel ziemlich sicher, dass vor der Einstellung mit der nackten Pamela Green etwas fehlt. Einer anderen Langzeitwirkung der Zensur sind diejenigen ausgesetzt, die kein Englisch können. Im Original sagt Mark zu Helen ein paar Sätze, die es in der deutschen Synchronfassung nie gab oder die später verlorengingen. Das war offenbar der Grund, aus dem für die deutsche DVD-Ausgabe eine sterile Neusynchronisation hergestellt wurde, in der Karlheinz Böhm seine Originalstimme abhanden gekommen ist. An den Fehlern in der alten Synchronfassung kann es nicht gelegen haben, weil da einiges übernommen wurde. Die Prostituierte Dora will immer noch zwei Dollar für ihre Dienste und nicht zwei Pfund („two quid“). Scheinbar hat sie nicht gemerkt, dass sie in London ist. Oder hält sie Karlheinz Böhm für einen amerikanischen Importeur von Horror-Comics?

Peeping Tom

Bald nach der Wiederaufführung in New York nahm der Corinth Filmverleih Peeping Tom in sein Programm auf. Das war nur möglich, weil Martin Scorsese einen Zuschuss zur Herstellung der Kopien gab. Lange hieß es, es seien 15.000 Dollar gewesen. Scorsese spricht inzwischen von 5000 Dollar, was daran liegen könnte, dass er immer versucht, sich bescheiden im Hintergrund zu halten, wenn mit seiner Unterstützung wieder mal ein Film restauriert und neu zugänglich gemacht wurde. Daran sieht man, dass es oft von im Grunde lächerlich geringen Summen abhängt, ob ein Meisterwerk am Leben bleibt (weiter gezeigt wird) oder stirbt. Anfang der 1980er war Peeping Tom wieder da, wenn auch noch ziemlich ramponiert.

Ende mit Phantasie

Francis Ford Coppola holte Powell 1981 als Berater in sein Zoetrope Studio. Das Resultat war der nicht wirklich gelungene, aber immer faszinierende Film One From the Heart, der für Coppola mit einem finanziellen Desaster endete. In Industriekreisen wurde dadurch das alte Vorurteil wiederbelebt, dass Michael Powell ein größenwahnsinniger Geldverschwender sei (Peeping Tom beweist das Gegenteil). Vielleicht hätte er sonst seinen Plan verwirklichen können, Ursula K. Leguins Fantasy-Roman The Wizard of Earthsea zu verfilmen. Wahrscheinlich hätte er an Fritz Langs Die Nibelungen angeknüpft, so wie Peeping Tom an M anknüpft. Entmutigen ließ Powell sich von den vielen Rückschlägen nicht. Martin Scorsese hat bewundernd erzählt, dass er jeden Tag aufstand, um an einem neuen Projekt zu arbeiten, obwohl er nie wieder einen Film drehen konnte.

1985 stellte das National Film Archive seine weltweit gefeierte Rekonstruktion der Urfassung von The Life and Death of Colonel Blimp vor. Weitere Rekonstruktionen folgten. Gone to Earth kann man jetzt wieder in der Schnittfassung der Archers sehen, und Tales of Hoffmann hat den letzten, von Korda entfernten Akt zurückerhalten. Während Powell weiter die Welt bereiste, zog sich Pressburger in ein Cottage in Suffolk zurück, das aussieht wie ein Märchenhaus. Bei der Wiederaufführung von Blimp hatte er seinen letzten öffentlichen Auftritt. Er starb am 5. Februar 1988. Powell folgte ihm zwei Jahre später, am 15. Februar 1990. Vielleicht sind sie auch einfach geblieben. Für beide war der Übergang von dieser in die andere Welt fließend. Deshalb haben sich die Archers-Filme ihre Magie bewahrt.

Powells Autobiographie endet mit dem Tod von Emeric Pressburger. Micky besucht Imre, seinen Freund und Partner, in Suffolk. Sie sitzen im Garten, unterhalten sich über alte Zeiten und werden von Imres Nachbarn gestört, einem in der Hecke wohnenden Fasan, der Lärm macht, weil er endlich gefüttert werden will. Pressburger berichtet Powell, was ihm kürzlich klargeworden ist:

„Eine Geschichte erzählen, Michael, ist kein Geschäft. Es ist eine Kunst, und wir sind anders als andere Künstler, weil uns Arthur Rank fast zehn Jahre lang in Ruhe ließ, weil er uns unseren eigenen Weg gehen ließ, auf dem wir dachten, Profis zu sein. Aber wir waren Amateure, Michael. Darum waren unsere Filme anders als die von anderen Leuten, und jetzt, da ich das weiß, kann ich glücklich sterben.“

Um dem alten Freund den Weg abzunehmen, will Powell Futter für den Fasan holen. Als er wiederkommt, sitzt Pressburger tot in seinem Stuhl. Das Buch, das damit endet, erschien 1992. 1994 veröffentlichte der Dokumentarfilmer Kevin Macdonald die Biographie seines Großvaters: Emeric Pressburger – The Life and Death of a Screenwriter. Darin erfährt man, wie es auch noch war. 1983 zog sich Pressburger bei einem Sturz eine Verletzung der Nackenmuskulatur zu. Danach hatte er Schwierigkeiten, den Kopf aufrecht zu halten. In den letzten Jahren seines Lebens litt er an Demenz. Er hatte kaum mehr Kontakt zur Außenwelt, sprach wenig, und wenn doch, verfiel er oft in ein Gemisch aus Ungarisch und Deutsch. Im Frühjahr 1987 erkrankte er so schwer, dass er – nun völlig senil – aus seinem geliebten Cottage in ein Pflegeheim gebracht werden musste. Ein Anwalt übernahm die finanziellen Angelegenheiten und löste Pressburgers Besitz auf, um das Pflegeheim bezahlen zu können. Emeric Pressburger starb in diesem Heim an einer Lungenentzündung.

Will man das wirklich wissen? Oder gibt es eine andere, innere Wirklichkeit, auf die wir uns konzentrieren sollten, statt uns mit der Oberfläche zu begnügen? Auf jeden Fall, würde Powell sagen, und Pressburger hätte ihm zugestimmt. Zum Schluss noch eine Stelle aus Michael Powells Autobiographie:

Unser Geschäft war nicht der Realismus, sondern der Surrealismus. Wir waren Geschichtenerzähler, Phantasten. Darum kamen wir mit der Dokumentarfilmbewegung auch nie zurecht. Dokumentarfilme begannen mit Poesie, und sie endeten als Prosa. Wir Geschichtenerzähler fingen naturalistisch an, und wir hörten auf mit der Phantasie.

Powell/Pressburger auf DVD:

Nichts von dem, was in Deutschland auf DVD erhältlich ist, würde ich empfehlen. Einiges ist sogar für hiesige Verhältnisse eine Unverschämtheit. Auf ein DVD-Cover kann jeder schreiben, was er will. Zum Schutz des Bürgers vor dem Film leisten wir uns eine Bundesprüfstelle und dergleichen; niemand schützt Filme und Filmliebhaber vor der Ramschmentalität gewisser Anbieter. Wohl dem, der Englisch kann. Ein guter Einstieg ist die „Powell and Pressburger Collection“ (GB): 11 Filme in akzeptabler Qualität für derzeit knapp 30 Euro. Peeping Tom bei Optimum (GB) ist billiger und bietet mehr als die aktuelle deutsche DVD-Ausgabe (Arthaus hat für September eine Neuedition angekündigt).

Black Narcissus kann man in Deutschland „digital remastered“ kaufen (bloß nicht!) oder in hervorragender Qualität bei Network in England.

Teuer sind die bei Criterion (USA) erschienenen Ausgaben. Dafür erhält man in den meisten Fällen die beste Bild- und Tonqualität und umfangreiches Bonusmaterial, das diesen Namen auch verdient – also keine hingeschlampten Tafeln mit Filmtiteln und Lebensdaten, keine vom Produzenten bestellten Lobhudeleien (Making of), keine Trailer zu anderen DVDs desselben Anbieters. Besonders gelungen finde ich A Canterbury Tale und I Know Where I’m Going!. The Edge of the World (+ Powells Return to the Edge of the World von 1978) gibt es in einer schönen Ausgabe des BFI, das mindestens so unterfinanziert ist wie unsere Murnau-Stiftung und seit Jahren zeigt, was trotzdem möglich ist.

Die beste, in England erschienene Ausgabe von Gone to Earth ist längst vergriffen und wird von Profiteuren zu Wucherpreisen angeboten; viel billiger, leicht zu bekommen und durchaus akzeptabel ist die DVD aus Südkorea. A Matter of Life and Death und Age of Consent würde ich keinesfalls in Deutschland, sondern nur bei Sony (USA) kaufen (Doppel-DVD, „The Films of Michael Powell“). The Spy in Black gibt es in Spanien und Australien, Contraband bei Kino (USA). Beiden Filmen würde man eine Restaurierung wünschen. Sehenswert sind sie allemal.

Falls jemand noch mehr will: Die drei Espionage-Episoden sind bei Network (GB) erhältlich, The Phantom Light und Red Ensign auf der DVD „Classic British Thrillers“ (USA).