Scholz: Geopolitik der EU und neuer Kalter Krieg zwischen China und USA

Seite 2: Völkerrecht für Auserwählte

Diese nimmt ihren Lauf mit Russlands Krieg gegen den Nato-Aspiranten Georgien, dann folgen schon die Annexion der Krim 2014, das Untergraben von Rüstungskontrollverträgen oder der "brutale militärische Einsatz zugunsten des Assad-Regimes in Syrien".

Ganz nonchalant übergeht Scholz hier die Rolle der USA im Kaukasuskrieg, lässt die gesamte Vorgeschichte der Maidan-Revolution unter offensichtlicher Einmischung der USA unter den Tisch fallen und verschweigt die wechselseitigen Vorwürfe zum Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (INF) – die sich die Tagesschau 2019 noch bemühte, differenziert darzustellen – ebenso wie die Ursprünge des Konflikts in Syrien, die sich bis zu einem von vielen Regime-Change-Versuchen der CIA zurückführen lassen. Eine solch einseitige Darstellung spricht Bände. Aber damit nicht genug. Scholz schreibt:

Als Putin den Befehl zum Angriff gab, zerstörte er eine europäische und internationale Friedensarchitektur, die über Jahrzehnte errichtet worden war. Unter Putins Führung hat sich Russland über die elementarsten in der VN-Charta verankerten Grundprinzipien des Völkerrechts hinweggesetzt.

"Look who's talking", würde der US-Amerikaner sagen: Guck mal, wer da spricht. Denn immerhin ist Scholz Mitglied der Partei, die damals zusammen mit Grünen und Linken die Bundeswehr ohne UN-Mandat in den Kosovo geschickt hat.

Die gegen den kommunistischen Systemfeind Slobodan Milošević gerichtete humanitäre Intervention der Bundesregierung, die im vermeintlich segensreichen Jahr 1990 geschworen hatte, nie wieder (am Völkerrecht vorbei) einen Krieg zu beginnen, gab die Süddeutsche Zeitung 2008 einen nachhallenden Namen: "Die Bonner Zeitenwende".

Und angesichts der völkerrechtlich ebenfalls bedenklichen Kriege, die die USA in zahlreichen Ländern – von Indochina und Vietnam bis Irak und Afghanistan, ganz zu schweigen vom Drohnenkrieg – geführt oder unterstützt haben, lässt sich die Behauptung von der unangetasteten Friedensarchitektur schwerlich aufrechterhalten.

Aber dann könnte im Titel des Artikels eben nicht mehr "Zeitenwende" stehen. Ein Narrativ, das Scholz bisweilen so ins Irrationale übersteigert, dass man sich fast fragen muss, ob sein Text es nicht subversiv als solches zur Schau stellen will.

Deutschlands neue Sicherheitsstrategie und die EU als "geopolitischer Akteur mit Gewicht"

So gelte die Zeitenwende auch im Hinblick auf ein nicht länger freies und befriedetes Europa, das sich der Bedrohung eines "imperialistischen Russlands" ausgesetzt sieht. Eines, das beabsichtige, den europäischen Kontinent "in Einflusszonen [zu] unterteilen und die Welt in Blöcke von Großmächten und Vasallenstaaten" aufzuteilen. Woher Scholz die russische Strategie so gut kennt, verrät er nicht.

Das bedrohte Europa, so der Kanzler weiter, müsse erweitert und zu einem "geopolitischen Akteur mit Gewicht" umgebaut werden. Deutschland werde als "einer der Hauptgaranten für die Sicherheit in Europa" Verantwortung übernehmen, "indem wir in unsere Streitkräfte investieren, die europäische Rüstungsindustrie stärken, unsere militärische Präsenz an der Nato-Ostflanke erhöhen und die ukrainischen Streitkräfte ausbilden und ausrüsten."

Mehr Militär, mehr Sicherheit. Das neue Deutschland setzt wieder auf Abschreckung statt auf Diplomatie und Entspannung. Die als Völkerrechtsexpertin gehandelte Außenministerin Annalena Baerbock erklärte "Wandel durch Handel" ja konsequenterweise bereits für gescheitert.

Dazu passt auch, dass Scholz im Nato-Beitritt Schwedens und des russischen Nachbarlands Finnland weniger eine Provokation als eine Stärkung der "euroatlantische[n] Sicherheit" sieht. Gleichzeitig – und jetzt halten Sie sich fest – solle das Vorgehen der Nato "nicht zu einer direkten Konfrontation mit Russland führen".