Schweig oder stirb: Zur Tabuisierung von Kritik in der vermeintlich freien Gesellschaft

Seite 2: Die Personifizierung des Gedankens

Das heißt, es wird nicht wenig Mühe darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, dass die laut geäußerten Gedanken nicht etwa eine zufällige Position des jeweils Sprechenden abgeben, sondern mit dem eigentümlichsten Wesen seiner Person selbst identisch seien.

Aber das ist es ja, was Merleau-Ponty mit dem zu Beginn des ersten Teils dieser Serie zitierten Satz über den liberalen Soziologen Raymond Aron aussagen wollte: Wenn ein Linker oder ein Liberaler einen Gedanken äußert, der so auch bei Rechten zu finden ist, macht er sich deswegen nicht zum Parteigänger einer rechten Partei.

Es kann einfach sein, dass dieser Gedanke stimmt. Politische Richtungen haben nicht das Copyright auf Denkprozesse. Sie haben den Markenkern in ihrem politischen Programm, aber auf welchem gedanklichen Weg dieses erreicht wird, ist von niemandem absehbar.

Im Visier steht der Sprechende

Die Rede von den "Sprecherpositionen" etwa, die zwar sprachlich Relativität beansprucht, wird in letzter, also materieller Konsequenz dann doch sehr persönlich-identitär: Ihre konkrete Anwendung zeigt, dass mit jener unpersönlich anmutenden Sprecherposition sehr wohl der einzelne Mensch selbst gemeint und markiert sein soll, welcher mit seiner gesamten Person ins moralische Recht gesetzt aus diesem heraus gehebelt werden soll.

Wer zum Laut-Nachdenken willens ist, den wird so etwas allerdings nicht wirklich beschäftigen; denn wo man ihn nicht hören will, ist er ohnehin fehl am Platze. Das laute Nachdenken tönt gerade in solcher Breite, weil es Resonanzräume sucht. Wenn sich Räume also verschließen, wird es wissen, dass dort keine Resonanz zu erwarten ist.

Das Problem der so verbreiteten Gesinnungsideologie wiederum ist ein tieferliegendes. Auch dieses resultiert aus existenzieller Verunsicherung und dem oft unbegründeten Gefühl stetiger Bedrohung: Lieber lässt der so ideologisch Bearbeitete einen Gedanken im eigenen Kopf leise absterben, als es sich womöglich mit der falschen Vokabel bei seiner Peergroup aus dem politischen Zeitgeist-Lager zu verscherzen.

Beispiel Anti-Atomkraft-Sticker

iese Vokabeln haben den Gedanken hinter sich gelassen und fungieren nur noch als Etiketten, die, wie ein Anti-Atomkraft-Sticker, signalisieren sollen, dass sein Benutzer auf der richtigen Seite steht – womit das Denken als solches als unzeitgemäß zurückgewiesen ist.

Nicht "der Staat" also ist es, der als kindische Orwell-Vorstellung eines verbotswütigen autoritären Monsters abweichende Meinungen unterdrückt, sondern die einzelnen Milieus und Gruppen besorgen das selbsttätig. Diese Selbsttätigkeit ist wiederum nicht unabhängig von staatlichen Strukturen, sondern aus diesen erwachsen.

Dass zwischen Nachdenken und laut Nachdenken überhaupt ein Unterschied gemacht wird, zeigt aber bereits, wie es mit dem Nachdenken als solchem in dieser Gesellschaft bestellt ist: Erstens enthält die Unterscheidung ja die Aufforderung, dass Gedanken eigentlich leise zu sein, also bloß im Kopf stattzufinden hätten, und es nur einigen wenigen besonders Waghalsigen gestattet sein soll, sie auch laut zu denken.

Wer nicht denkt, der nicht verliert

Wer, zweitens, das laute Nachdenken scheut, wird schon ganz grundsätzlich mit dem Nachdenken auf Kriegsfuß stehen. So jemand verliert freilich am wenigsten und gewinnt am meisten, wenn mit dem Denken komplett aufgehört wird.

Es scheint daher nicht allzu weit hergeholt, wenn man davon ausgeht, es handele sich um eben solche bei jenen Aufgeregten, die etwa weiterhin gegen jede wissenschaftliche Evidenz behaupten, eine zu wenig empathische Äußerung von Gedanken könnte reale Verbrechen nach sich ziehen.

Das Ausmaß der Angst vor dem offenen Wort dürfte jedenfalls mit dem der eigenen Denkunwilligkeit in etwa korrespondieren.

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