Schweig oder stirb: Zur Tabuisierung von Kritik in der vermeintlich freien Gesellschaft

Demonstrativ auf der richtigen Seite: Anti-AKW-Protest, 1979. Bild: Nationaal Archief NL

Selbstzensur abweichender Meinung: Politische Lager nutzen Moral und Druck, um Diskurse einzuhegen. Das Wort wird zum Gesinnungsausweis. Appell in vier Teilen. (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Serie beschreibt Telepolis-Autor Marlon Grohn die Auffassungen des französischen Denkers Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1947 über politische Themen und kritisiert die heutige Zeit, in der das laute Nachdenken scheinbar verpönt ist.

Er geht auf die Praxis des "Cancelns" ein, bei der Konkurrenten öffentlich diskreditiert werden, und beschreibt die Verbindung zwischen diesem Phänomen und dem kapitalistischen Markt. Der erste Teil beklagt einen Mangel an "lauten Nachdenken" in intellektuellen Berufen und Geisteswissenschaften.

Grohn weist darauf hin, dass das "laute Nachdenken" notwendig ist, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, und die gegenwärtige Tendenz zum Aktivismus das eigentliche Denken ersetzt.


Sicher könnte eingewandt werden, wir lebten heute in einer der tolerantesten und freiesten Gesellschaften aller Zeiten. Und sicher stimmt es, dass in kleinem Kreise heute meist jeder sagen kann, was er will, ohne ernste Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Aber hier soll es um die größere Öffentlichkeit gehen, die ja – Social Media sei Dank – mit den privaten Kreisen schon irreversibel verknüpft ist.

Denn die Existenz von gesellschaftlicher Toleranz und das Verschwinden von lautem Nachdenken sind kein Widerspruch. Diese Gesellschaft hat geschafft, wovon alle vorherigen nur träumen konnten: Das laute Nachdenken ist einfach verschwunden, ohne dass es explizit verboten wurde.

Zwar gibt es immer wieder einige randständige Forderungen. Dazu zählt etwa die Äußerung einzelner Formulierungen zu verbieten, die sich gerne auch unter dem Kostüm von Gerechtigkeit, Solidarität oder Schonung vor Verletzung verbergen. Und die daher, weil einmal als politisch links missverstanden, von allen möglichen Reaktionären zum Popanz aufgebauscht werden.

Aber letztlich wurde das Problem des lauten Nachdenkens bereits unterhalb der Ebene politischer Zusammenhänge, nämlich innerhalb der zwischenmenschlichen Beziehungen gelöst. Und dies wurde nicht etwa durch äußere, gar gewaltsame Eingriffe der Herrschenden bewerkstelligt.

Das Canceln ist gerade nicht, wie so gerne behauptet, eine "Culture", also Wesen einer Gesellschaft, sondern Symptom. Wenn Sprache, wie Marx sagt, praktisches Bewusstsein ist, dann bedeuten bereits vereinzelte Forderungen nach Verboten von bestimmten Wörtern, dass bis ins Bewusstsein der Leute ihre Anhängerschaft, ihre Bindung an diese oder an eine der herrschenden Ideologien kontrolliert werden soll.

Es sind aber, zumindest in sogenannten pluralistischen Gesellschaften, praktischerweise meistens gleich zwei herrschende Ideologien, aus denen die Bürger die ihnen genehme auswählen dürfen.

Beide zusammen bilden den sogenannten Zeitgeist, der sich in eine falsche rechte und eine oft nicht minder falsche linke Seite aufspaltet, welche von der Wahrheit, je nach Sachfrage, nur unterschiedlich weit entfernt liegen. Denken gemäß diesem Zeitgeist hieße dann, nicht wirklich zu denken, sondern bereits die allgegenwärtigen Embleme und starren Schablonen für Gedanken zu halten.

Beide Lager des Zeitgeists arbeiten mit Moralisierung und mit Sanktionsdruck, sollten die geäußerten Gedanken aus dem als einmal konform geltenden Rahmen herausfallen.

Das hat freilich mehr mit vormoderner Sippenehre zu tun als mit offenem Diskurs, verrät aber auch, dass letzterer vielleicht noch gar nicht so weit über die Prinzipien der ersteren hinaus geschritten ist.

Ein Problem hat, wer laut nachdenken möchte

Für die überwiegende Mehrheit aber ergibt sich daraus kein Problem, weil sie in dem gestatteten Rahmen bereits all ihre Gedankenfülle realisiert sehen. Während für diese Mehrheit öffentliche Aufmerksamkeit lediglich als ein weiteres Stück Beute zum privaten Nutzen aufgefasst wird, ergibt sich ein Problem für jene, die laut nachdenken wollen, nicht zuletzt für diejenigen, die das – wie die Philosophen – beruflich tun, sehr wohl.

Allerdings haben diese in einer langen Tradition der Bekämpfung von Denkfeindlichkeit zur Genüge Strategien erprobt, dem entgegenzuwirken und gelernt, so zu formulieren, dass auf den ersten Blick der Gedanke im allgemeinen Sprachbrei nicht weiter auffällt. Dies wiederum führt zu einer recht trüben Sprachsuppe, in der nach den Gedanken explizit gefischt werden muss.

Den Bestrebungen nach ideologischer Homogenisierung, die heute gar nicht mehr von oben angeordnet werden muss, sondern freiwillig von unten, von den durch die Maßgaben der Herrschaft Verängstigten und Disziplinierten, ins Werk gesetzt werden, kommt dabei auch der Umstand zu Hilfe, dass innerhalb der identitären Logik bürgerlicher Öffentlichkeit das geäußerte Wort nicht mehr als Träger eines Gedankens, also einer Beschreibung von bestimmter Realität, sondern als Gesinnungsausweis gilt.

Die Personifizierung des Gedankens

Das heißt, es wird nicht wenig Mühe darauf verwendet, den Eindruck zu erwecken, dass die laut geäußerten Gedanken nicht etwa eine zufällige Position des jeweils Sprechenden abgeben, sondern mit dem eigentümlichsten Wesen seiner Person selbst identisch seien.

Aber das ist es ja, was Merleau-Ponty mit dem zu Beginn des ersten Teils dieser Serie zitierten Satz über den liberalen Soziologen Raymond Aron aussagen wollte: Wenn ein Linker oder ein Liberaler einen Gedanken äußert, der so auch bei Rechten zu finden ist, macht er sich deswegen nicht zum Parteigänger einer rechten Partei.

Es kann einfach sein, dass dieser Gedanke stimmt. Politische Richtungen haben nicht das Copyright auf Denkprozesse. Sie haben den Markenkern in ihrem politischen Programm, aber auf welchem gedanklichen Weg dieses erreicht wird, ist von niemandem absehbar.

Im Visier steht der Sprechende

Die Rede von den "Sprecherpositionen" etwa, die zwar sprachlich Relativität beansprucht, wird in letzter, also materieller Konsequenz dann doch sehr persönlich-identitär: Ihre konkrete Anwendung zeigt, dass mit jener unpersönlich anmutenden Sprecherposition sehr wohl der einzelne Mensch selbst gemeint und markiert sein soll, welcher mit seiner gesamten Person ins moralische Recht gesetzt aus diesem heraus gehebelt werden soll.

Wer zum Laut-Nachdenken willens ist, den wird so etwas allerdings nicht wirklich beschäftigen; denn wo man ihn nicht hören will, ist er ohnehin fehl am Platze. Das laute Nachdenken tönt gerade in solcher Breite, weil es Resonanzräume sucht. Wenn sich Räume also verschließen, wird es wissen, dass dort keine Resonanz zu erwarten ist.

Das Problem der so verbreiteten Gesinnungsideologie wiederum ist ein tieferliegendes. Auch dieses resultiert aus existenzieller Verunsicherung und dem oft unbegründeten Gefühl stetiger Bedrohung: Lieber lässt der so ideologisch Bearbeitete einen Gedanken im eigenen Kopf leise absterben, als es sich womöglich mit der falschen Vokabel bei seiner Peergroup aus dem politischen Zeitgeist-Lager zu verscherzen.

Beispiel Anti-Atomkraft-Sticker

iese Vokabeln haben den Gedanken hinter sich gelassen und fungieren nur noch als Etiketten, die, wie ein Anti-Atomkraft-Sticker, signalisieren sollen, dass sein Benutzer auf der richtigen Seite steht – womit das Denken als solches als unzeitgemäß zurückgewiesen ist.

Nicht "der Staat" also ist es, der als kindische Orwell-Vorstellung eines verbotswütigen autoritären Monsters abweichende Meinungen unterdrückt, sondern die einzelnen Milieus und Gruppen besorgen das selbsttätig. Diese Selbsttätigkeit ist wiederum nicht unabhängig von staatlichen Strukturen, sondern aus diesen erwachsen.

Dass zwischen Nachdenken und laut Nachdenken überhaupt ein Unterschied gemacht wird, zeigt aber bereits, wie es mit dem Nachdenken als solchem in dieser Gesellschaft bestellt ist: Erstens enthält die Unterscheidung ja die Aufforderung, dass Gedanken eigentlich leise zu sein, also bloß im Kopf stattzufinden hätten, und es nur einigen wenigen besonders Waghalsigen gestattet sein soll, sie auch laut zu denken.

Wer nicht denkt, der nicht verliert

Wer, zweitens, das laute Nachdenken scheut, wird schon ganz grundsätzlich mit dem Nachdenken auf Kriegsfuß stehen. So jemand verliert freilich am wenigsten und gewinnt am meisten, wenn mit dem Denken komplett aufgehört wird.

Es scheint daher nicht allzu weit hergeholt, wenn man davon ausgeht, es handele sich um eben solche bei jenen Aufgeregten, die etwa weiterhin gegen jede wissenschaftliche Evidenz behaupten, eine zu wenig empathische Äußerung von Gedanken könnte reale Verbrechen nach sich ziehen.

Das Ausmaß der Angst vor dem offenen Wort dürfte jedenfalls mit dem der eigenen Denkunwilligkeit in etwa korrespondieren.

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