So sieht das militärische Gleichgewicht zwischen Russland und Nato aus

Eine Longbow-Hellfire-Rakete startet vom Kampfschiff USS Montgomery. Die Feuerkraft vom US-Militär und der Nato sind der russischer Kräfte überlegen. Bild: Lt.j.g. Samuel Hardgrove / CC BY 2.0

Das Atlantische Bündnis hat Moskau als seine "bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung" bezeichnet. Aber wie sieht das militärische Gleichgewicht beider Seiten tatsächlich aus?

Der russische Einmarsch in der Ukraine und die damit einhergehenden Gräueltaten haben natürlich in ganz Europa tiefe Ängste ausgelöst. Im neuen Strategischen Konzept der Nato für das nächste Jahrzehnt wird Russland als "die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum" bezeichnet.

Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland und Europa am Quincy Institute for Responsible Statecraft.

Bevor man jedoch enorme zusätzliche Ressourcen für die Konfrontation mit Russland bereitstellt, sollte man einen nüchternen Blick auf die russischen militärischen Ressourcen sowie auf Art und Umfang der russischen militärischen Bedrohung für die Nato werfen.

Wir sollten nicht vergessen, wie westliche Geheimdienste nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu dem Schluss kamen, dass ihre Schätzungen der militärischen Macht der Sowjetunion aus der Zeit des Kalten Krieges stark übertrieben waren (ebenso wie die westlichen Vorhersagen eines problemlosen russischen Sieges über die Ukraine in diesem Jahr, auch das sollte man nicht vergessen). Schließlich sind die finanziellen Mittel der USA und des Westens nicht unbegrenzt, und sie für die Verteidigung gegen Russland einzusetzen, bedeutet, sie an anderer Stelle einzuschränken.

Was die Militärausgaben anbelangt, sind die Vereinigten Staaten und die Nato Russland haushoch überlegen. Im Jahr 2021 gab Russland rund 66 Milliarden Dollar für sein Militär aus. Allein die europäischen Nato-Mitglieder gaben mehr als das Vierfache aus. Die Vereinigten Staaten mobilisierten mehr als elfmal so viel an Rüstungsausgaben (801 Milliarden Dollar), obwohl sie natürlich auch außerhalb Europas große militärische Verpflichtungen haben. Darüber hinaus haben die europäischen Regierungen, darunter auch Deutschland, eine drastische Erhöhung der Militärausgaben zugesagt, auch wenn die Einzelheiten noch nicht ganz klar sind.

Allein die europäischen Flotten der Nato verfügen über fast das Vierfache der russischen Kriegsschiffe, ganz abgesehen von den enormen Streitkräften, die den USA mit der Sechsten Flotte im Mittelmeer und der Zweiten Flotte im Atlantik zur Verfügung stehen. Die im Strategischen Konzept der Nato gemachte Behauptung, Russland könne im Mittelmeer eine ernsthafte Bedrohung für die Nato darstellen, erscheint nicht überzeugend.

Russlands Mittelmeergeschwader besteht in der Regel nur aus drei Fregatten und sechs konventionellen U-Booten der Varshavyanka-Klasse. Allein die Sechste Flotte der Vereinigten Staaten verfügt in der Regel über rund 40 Kriegsschiffe, darunter einen Flugzeugträger und Kreuzer, die nicht nur von den anderen Nato-Marine-Einheiten, sondern auch von deren Luftstreitkräften unterstützt werden.

Russlands große U-Boot-Flotte ist eine andere Sache. Diese stellt für die Nato dieselben beiden Bedrohungen dar wie einst die sowjetischen U-Boote. Erstens geht von den zwölf russischen U-Booten mit ballistischen Raketen und den zehn russischen U-Booten mit Marschflugkörpern eine nukleare Bedrohung aus. Zweitens hat Russland 15 nukleare Angriffs-U-Boote (von denen fünf, zumindest bis zu diesem Jahr, im Pazifik stationiert waren) und 20 konventionelle Angriffs-U-Boote (sechs im Pazifik).

Ihr Hauptzweck besteht darin, den Einsatz von U-Booten mit ballistischen Raketen zu schützen und die Nato-Schifffahrt über den Atlantik anzugreifen, um im Falle eines Krieges zu verhindern, dass US-Verstärkung Europa erreicht. Wie wirksam sie tatsächlich wären, ist nicht klar – die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich verfügen zusammen über mindestens 35 nukleare Angriffs-U-Boote, die im Atlantik zum Schutz von Konvois eingesetzt werden können. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie erheblichen Schaden anrichten könnten.

Aber wären US-Verstärkungen in Europa überhaupt notwendig, um eine russische Invasion in Nato-Gebiete abzuwehren? Eine russische Armee, die monatelang um die Einnahme relativ kleiner Städte im Donbas kämpfen musste, dürfte kaum in der Lage sein, Warschau, geschweige denn Berlin, einzunehmen. Russland kann auch nicht verhindern, dass die US-Luftwaffe den Atlantik überquert, um eine Invasion abzuwehren.

Was die schiere Zahl der Truppen und Waffen angeht, so haben die europäischen Nato-Mitglieder und die derzeit in Europa stationierten US-Truppen einen erheblichen Vorteil. Im Jahr 2021 verfügten die fünf wichtigsten europäischen Nato-Mitglieder über mehr als 500.000 aktive Bodentruppen (ohne Reserven), während Russland nur 280.000 Soldaten hatte, von denen die meisten derzeit in der Ukraine festsitzen (oder in Zehntausenden von Fällen tot oder verwundet sind). Die Vereinigten Staaten haben sechs Kampfbrigaden in Europa stationiert – weit weniger als die russischen Streitkräfte insgesamt, aber genug, um den europäischen Widerstand ernsthaft zu stärken.

Auf dem Papier verfügt Russland über 22.000 gepanzerte Fahrzeuge im Vergleich zu den 16.000 der Nato. Die Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg deuten jedoch darauf hin, dass ein großer Teil dieser russischen Fahrzeuge in Wirklichkeit so stark beschädigt ist, dass sie nicht mehr wirksam eingesetzt werden können. Russlands verbleibende Überlegenheit in Waffen gegenüber der Ukraine wurde zudem durch eine Kombination aus ukrainischem Mut und Panzerabwehrwaffen der Nato weitgehend zunichte gemacht. Dasselbe gilt für die noch klarere Überlegenheit Russlands in der Luft, sobald russische Kräfte mit amerikanischen Flugabwehrraketen konfrontiert werden.

Auf absehbare Zeit wird ein sehr großer Teil der russischen Armee in der Ukraine kämpfen oder ukrainische Gegenangriffe abwehren müssen. Nach Schätzungen amerikanischer und britischer Geheimdienste hat Russland bereits rund ein Viertel seiner effektiven Kampfkraft in der Ukraine verloren. Die Bedrohung, die von den russischen Bodentruppen für die Nato ausgeht, lässt sich daher nicht mit den Zeiten vergleichen, als riesige sowjetische Panzerarmeen an Elbe und Donau standen.