Spekulationen über den Atomkrieg

Ein nuklearer Schlagabtausch zwischen Pakistan und Indien hätte weitreichende Konsequenzen, aber auch bereits jetzt beeinflussen die Spannungen möglicherweise die Lage in Afghanistan

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Die Kaschmir-Krise zwischen den Atommächten Indien und Pakistan scheint sich zuzuspitzen. Große Truppenverbände sind auf beiden Seiten der Grenze aufmarschiert, während die Politiker sich jeweils in Drohungen, Versicherungen des Rückhalts in der Bevölkerung und Strategien versuchen, in der Weltöffentlichkeit jeweils dem Anderen die Schuld zuzuschieben, falls es wirklich zu einem Krieg kommen sollte. Doch möglicherweise stehen nicht nur blutige Kämpfe bevor, sondern auch ein Nuklearkrieg. Die Finger scheinen am Drücker zu liegen.

In seiner gestrigen Rede hat der pakistanische Präsident, General Pervez Musharraf, den angeblichen Kampfeswillen seiner Nation betont, sollte ein Angriff aus Indien erfolgen. Martialisch sagte er, man werde bis zum "letzten Blutstropfen" kämpfen. Zwar werde Pakistan einen Krieg nicht beginnen, aber ihn, sollte dies notwendig werden, mit "aller Macht" führen. Das weist ebenso wie die seit Tagen durchgeführten Tests mit Mittelstreckenraketen darauf hin, dass der Einsatz von Atomwaffen eine Trumpfkarte darstellt. Den Konflikt spitzte er weiter zu, indem er erklärte, dass Pakistan weiterhin "moralisch, politisch und diplomatisch" den "Freiheitskampf" in Kaschmir unterstützen werde. Man werde aber verhindern, dass von Pakistan aus keine terroristischen Aktivitäten erfolgen.

Musharraf sprach auch von "hinduistischen Terroristen" und verwies auf die Unruhen in Gujarat. Die indische Regierung hingegen erklärt, dass die Infiltration noch nicht aufgehört habe und dass sich al-Qaida- und Taliban-Kämpfer mittlerweile in dem zu Pakistan gehörenden Teil von Kaschmir aufhalten sollen. Insgesamt sollen sich hier bis zu 3000 Kämpfer aufhalten, die meist aus Saudi-Arabien stammen. Der indische Verteidigungsminister Fernandes behauptet, dass der pakistanische Geheimdienst ISI weitere Anschläge auf indische Ziele plane.

Seit dem Terroranschlag auf das indische Parlament (Terroristen mit Laptop, Emails und Handys)hat die indische Regierung Pakistan bereits wiederholt militärische Aktionen angedroht, wenn es nicht sofort die Unterstützung der terroristischen Gruppen, die für die Loslösung von Kaschmir von Indien kämpfen, einstellt und weitere Aktivitäten verhindert. Indien berief sich dabei auf dasselbe Recht, das auch die USA für sich beim Angriff auf das Taliban-Regime geltend gemacht haben. Die US-Regierung hingegen hat sich in einen nahezu unauflösbaren Konflikt begeben, denn ohne die Hilfe von Pakistan wäre der Krieg in Afghanistan nicht zu führen gewesen und könnte dort auch keine neue Regierung auf Dauer installiert und Frieden hergestellt werden. Die US-Regierung beschränkt sich auf wirkungslose Aufforderungen an Pakistan, gegen die Terroristen oder Befreiungskämpfer schärfer vorzugehen, während Indien von einem "Krieg gegen den Terrorismus" nach amerikanischem Vorbild abgehalten werden soll.

Ein möglicher Krieg zwischen den Partnern in der Allianz gegen den Terrorismus würde nicht nur die Sicherheitslage in der Welt gefährden, da es hier um geopolitische Interessen nicht nur der USA, sondern etwa auch von Russland und China geht. Problematisch würde auch das weitere Vorgehen gegen al-Qaida- und Taliban-Gruppen in Afghanistan. Angeblich habe man Erkenntnisse, wie der Kommandeur der amerikanischen Truppen in Afganistan, Franklin L. Hagenbeck, berichtete, dass sich praktisch die gesamte Taliban- und al-Qaida-Führung in die pakistanischen Stammesgebiete im Nordwesten des Landes flüchten konnten. Hier würden sich überdies bis zu 1000 Kämpfer aufhalten, darunter auch usbekische, tschetschenische oder uigurische Mudschaheddin. Über diese an Afghanistan angrenzenden halbautonomen Gebieten, die vorwiegend von Pashtun-Angehörigen bevölkert werden, hat Pakistans Regierung wenig Kontrolle. Nach Hagenbeck seien auch schon wieder einige Taliban-Führer wieder nach Afghanistan zurück gekehrt, um hier einen Guerilla-Krieg gegen die neue Regierung und die Truppen der Allianz vorzubereiten. Pakistan hatte zwar damit begonnen, die schwer kontrollierbare Grenze mit Militär besser abzuschließen, doch wegen des Konflikts mit Indien sind bereits die ersten Verbände wieder abgezogen und an die pakistanisch-indische Grenze in Kaschmir verlegt worden.

Schätzungen über die Zahl der Atomwaffen gehen weit auseinander

Inzwischen wird eifrig darüber spekuliert, über welches Atomwaffenarsenal die befeindeten Staaten verfügen und welche Opfer ein nuklearer Schlagabtausch fordern könnte. Das Wissen ist erstaunlich gering. Das Institute for Science and International Security in Washington DC geht etwa davon aus, dass Indien über 64 Nuklearsprengköpfe verfügen würde, während Pakistan nur 40 habe. Das Stockholm International Peace Research Institute spricht hingegen nur von 25-40 indischen und 15-20 pakistanischen Sprengköpfen. Der pakistanische Atomphysiker und Friedensaktivist Perez Hoodbhoy glaubt hingegen, wie er der Times versicherte, dass Pakistan über mehr Sprengköpfe verfüge, als bislang vermutet wurde. So hätten pakistanische Wissenschaftlerin seit 1999 Tag und Nacht daran gearbeitet, waffengeeignetes Plutonium zu produzieren. Er schätzt, dass Pakistan mehr als die bislang geschätzten 30 oder 40 Sprengköpfe besitzt. Im Bulletin of the Atomic Scientists vermutet man, dass Pakistan mehr Sprengköpfe als Indien besitzt, das zwischen 30 und 40 haben soll. Unbekannt ist auch, welche Sprengkraft die Atomwaffen besitzen.

Folgen eines Atomkrieges

Auch die möglichen Auswirkungen eines nuklearen Krieges werden ähnlich auseinandergehend eingeschätzt. nach einer Schätzung, die New Scientist Ende der letzten Woche veröffentlicht hat, würden bei einem Schlagabtausch mindestens drei Millionen Menschen getötet und 1,5 Millionen schwer verletzt werden. Dabei wurde von der Annahme ausgegangen, dass nur "ein Zehntel" der Atomwaffen beider Seiten zum Einsatz käme und jeweils eine 15 Kilotonnen Bombe über den jeweils fünf größten Städten in Indien und Pakistan explodieren würden.

Ein amerikanischer Geheimdienstbericht rechnet bei einem Atomkrieg zwischen beiden Ländern mit bis zu 12 Millionen Toten und 7 Millionen Verletzten. Gewarnt wird, dass schon ein begrenzter Nuklearkrieg katastrophale Folgen haben könne. In ganz Asien und im Mittleren Osten würden Krankenhäuser mit Verletzten überflutet werden und Hilfe von Außen notwendig sein. Neben den unmittelbaren Opfern würden weitere Millionen an Hunger, Krankheiten oder Verstrahlung sterben. Große Flächen für die Landwirtschaft würden auf lange Zeit nicht mehr verwendet werden können. Die Gefährdung durch den nuklearen Niederschlag würde zudem weit über Pakistan und Indien hinausreichen.

Nach Simulationen, die den Szenarien und Analysen des Consequences Assessment Tool Set (CATS) des Pentagon entsprechen würden, fallen die Schätzungen nach Wetterbedingungen, Zahl und Größe der Atomwaffen, der Bevölkerung und der Raketen sehr unterschiedlich aus, wie die Washington Times berichtet. In einer Simulation wurde davon ausgegangen, dass Pakistan lediglich eine 10 Kilotonnen Bombe auf die kleine Stadt Muzaffarabad in Kaschmir einsetzt, um den Vormarsch indischer Truppen abzuwehren. In der Stadt sollen sich nach indischen Geheimdiensten muslimische Extremisten aufhalten. Während in der Stadt sofort mehr als 3.400 Menschen sterben würden, sei die in einem Radius von 10 Kilometern bei einem schwachen Wind mit einer Todesrate von 90 Prozent zu rechnen. Bei Westwind würde der Fallout 30 Kilometer weit bis in das indische Kaschmir reichen und dort mindestens weitere 29.000 Menschen gefährden, sofern diese noch nicht evakuiert wurden.

Die Annahme ist freilich nicht sehr realistisch, dass Pakistan eine erste Atombombe auf eigenem Gebiet zur reinen Verteidigung einsetze. Viel wahrscheinlicher ist, dass zur Abschreckung eine Atombombe über einer gegnerischen Stadt gezündet werde. Dann würde nicht nur gleich die Zahl der Opfer in die Höhe schnellen, sondern dann wäre auch mit einem Racheangriff zu rechnen, was sich in allen Simulationen mit großer Wahrscheinlichkeit Schlag für Schlag weiter bis hin zum Angriff auf die großen Städte und Hauptstädte steigern würde. Würde beispielsweise die größte Bombe mit 43 Kilotonnen, die Indien besitzen soll, über Islamabad mit einer Bevölkerung von 900.000 Menschen gezündet, so würden unmittelbar über 100.000 Menschen sterben.

Nach dem Friedensaktivisten Hoobhoy würden beide Länder die Gefahren, die von einem nuklearen Krieg ausgehen, nicht wirklich zutreffend einschätzen. Indien würde Pakistans Atomwaffenarsenal banaliseren, während Pakistan vernarrt in Atomwaffen sei. Die meisten Menschen in Indien und Pakistan würden wenig über einen Atomkrieg wissen und glauben, dass eine Atombombe nur eine etwas größere normale Bombe sei.