Steinmeier: "Es sind zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes"

Seite 5: Ist Systemkritik ein "Frontalangriff auf die liberale Demokratie"?

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Der Bundespräsident echauffiert sich tatsächlich darüber, dass Bürger, wenn sie Politik und Eliten kritisieren, von dem "System" ("das System") sprechen. Steinmeier fasst offensichtlich die Kritik am "System" als eine "Verächtlichmachung" der "politischen Ordnung" auf, die "in der Regel nichts anderes ist als ein Frontalangriff auf die liberale Demokratie und ihre Institutionen" sei.

Richtig ist: Es gibt Nazis und andere Personen, die, wenn sie von dem "System" sprechen, eine tiefe Verachtung gegenüber der Demokratie und unserer Verfassung, dem Grundgesetz, empfinden. Ihr Wunsch ist es, dieses demokratische System abzuschaffen. Dass man diesen Personen in aller Deutlichkeit entgegentritt, versteht sich von selbst. Aber: Wer "das System" kritisiert, fährt doch nicht "in aller Regel", wie Steinmeier es ausdrückt, einen "Frontalangriff auf die liberale Demokratie und ihre Institutionen". Oder gibt es zu der "Feststellung" eine Statistik? Gibt es wissenschaftliche Arbeiten, die Steinmeiers Aussage fundiert belegen? Oder handelt es sich lediglich um seine Wahrnehmung, also um eine "gefühlte Wahrheit"?

Der Punkt also ist: Bürger können vieles meinen, wenn sie "das System" kritisieren. Manche Bürger verstehen, dass die demokratischen Systeme in vielen Ländern durch eine Art zweites System überlagert werden. Sie verstehen, dass die vielen Interaktionsmuster der Machteliten, dass die geheimen oder nicht geheimen Zirkel, in denen sich die Mächtigen treffen, um hinter verschlossenen Türen über die Weltpolitik zu reden, aus demokratischer Sicht ein Problem darstellen. Manche von ihnen setzen sich mit den Schriften Berhard Walpens zur Mont Pelerin Society (MPS) auseinander und begreifen, dass ein weltweites Netz aus über 500 Think Tanks, das der MPS zugeordnet werden kann, keiner demokratischen Kontrolle unterliegt.

Manche Bürger verstehen, dass auch in dem als vorbildlich geltenden demokratischen System in Deutschland schwere Schieflagen zu finden sind, die zu einer Untergrabung demokratischer Prozesse führen.

Ja, und manche Bürger sagen gar, dass "etwas faul ist in der Bundesrepublik", sie schauen "hinter die demokratische Fassade" und sagen Sätze wie diese: "Jeder Deutsche hat die Freiheit, Gesetzen zu gehorchen, denen er niemals zugestimmt hat...; er ist frei, Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, und sie üppig zu versorgen - mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt wurde. Insgesamt sind Staat und Politik in einem Zustand, von dem nur noch Berufsoptimisten oder Heuchler behaupten können, er sei aus dem Willen der Bürger hervorgegangen."

Wie würde Steinmeier die hier zitierten Aussagen einordnen? Würde er sie klassifizieren als "Frontalangriff auf die liberale Demokratie"? Nun, die Aussagen stammen aus dem Buch "Das System", das bereits 2001 vom hoch angesehenen Parteienkritiker und Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim verfasst wurde.

Kurzum: Systemkritik war, ist, darf und muss auch ein fester Bestandteil einer Demokratie sein. Bürger haben das Recht, "das System" zu kritisieren. Und wenn man als Politiker diese Kritik hört, könnte man vielleicht, ganz im Sinne des Dialogformats "Deutschland spricht", vielleicht einfach auch mal die Bürger fragen, was sie mit dem "System" meinen.

Es gilt festzuhalten: Steinmeier versucht die Kritik an "dem System" als illegitim zu stigmatisieren. Aber das verwundert nicht. Wer so sehr von "dem System" wie ein Bundespräsident, also jemand, der in diesem System mindestens 216.000 Euro im Jahr verdient, profitiert, stellt sich vielleicht schützender vor "das System" als ein 20-jähriger Hartz-IV-Bezieher, dem das Amt gerade die Bezüge auf null gekürzt hat, der sich nun auf ein Leben in der Obdachlosigkeit freuen darf, und aller Voraussicht nach einen eigenen Blick "das System" haben dürfte.