Steinmeier: "Es sind zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes"

Seite 6: Steinmeier findet in der "Internetgesellschaft" die Wurzel des Übels

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Krawallprofis machen in immer mehr deutschen Städten Schlagzeilen. Chemnitz und Köthen haben uns in den letzten Tagen besonders beschäftigt. Aber es wäre unredlich, nur Ostdeutschland in den Blick zu nehmen. Und einseitig wäre es ebenso, den Blick nur nach rechts zu richten: Die Rauschschwaden über dem G20-Gipfel in Hamburg waren sicherlich auch kein Angebot zum respektvollen, ergebnisoffenen Dialog.

Natürlich trägt die digitale Kommunikation ihren Anteil an Verrohung und Enthemmung. Ein Tag ohne Skandal gilt als verlorene Zeit. Eva Menasse hat kürzlich in einer Rede ein Psychogramm der Internetgesellschaft gezeichnet und dabei - ohne in simple Technikfeindlichkeit zu verfallen - recht lakonisch festgehalten: "Da sich die Menschheit […] charakterlich nicht genauso exponentiell verbessert hat wie ihre Prozessoren, hat das die erwartbaren Folgen: Noch nie gab es so viel Lüge, Denunziation und sprachlich vervielfältigten Hass in der Welt." Ich glaube übrigens, es sind nicht einzelne Lügen oder gezielte Fehlinformationen, sondern es ist die schiere Überflutung, das tägliche Feuerwerk von Beschimpfungen und Beleidigungen, das die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen zusehends verschwimmen lässt, und das moralische Immunsystem überlastet und zersetzt. Die Kommunikationsexplosion im Netz bedeutet jedenfalls nicht nur mehr Kommunikation - was an sich ja zu begrüßen ist -, sondern vor allem lauter, schriller.

Und so ist, online und offline, die Wirklichkeit dieser Tage viel zu oft: Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.

Der Bundespräsident spricht an dieser Stelle von einer "Verrohung" und "Enthemmung" in der Gesellschaft. Wie zu erwarten, schiebt er die Schuld für diese Entwicklung in unserer Gesellschaft dorthin, wo Politik und all jene, die die Ursachen für die Probleme im Land, nicht sehen wollen, leicht mit ihr umgehen können. In der "digitale Kommunikation", ja, in der "Internetgesellschaft" muss die Wurzel des Übels zu finden sein. Da lässt sich dann wieder leicht an die "Echokammern" und "Filterblasen" anknüpfen.

Wie gut, dass die politische Klasse es versteht, auf eine anständige und Menschen wertschätzende Weise zu kommunizieren.

Wenn etwa ein Kanzleramtsminister sagt:

  1. "Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen" ein Grünen-Politiker, laut Medienberichten, nichts gegen eine erneute Bombardierung Dresden zu haben scheint
  2. ein CDU-Politiker meint, der US-Präsident gehöre abgeschossen
  3. ein anderer Parlamentarier, laut Medienberichten, Aussagen getätigt haben soll, die in ihrer Menschenverachtung den übelsten Hass-Kommentaren im Netz in nichts nachstehen
  4. ein Ministerpräsident auf dem Weg zur einer Veranstaltung bei der es um Bürgerbeteiligung geht, zu einem Bürger, der ihn stört, sagt: "Können Sie mal das Maul halten?!...Sie sind dumm!" -

dann sollte man selbstverständlich nicht von einer "Verrohung" und "Enthemmung" sprechen.

Das zweierlei Maß, mit dem Eliten sehr gerne messen, kommt auch in der nächsten Aussage Steinmeiers zum Ausdruck. "Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt", sagt der Bundespräsident.

Auch diese Aussage muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Da kritisiert er, Steinmeier, also derjenige, der eine Demonstration niederbrüllt, andere, die brüllen - natürlich unter voller Rückendeckung der Medien. Merke: Gebrüllt werden darf. Aber nur, wenn "der Richtige" gegen "die Richtigen" brüllt.