Steinmeier: "Es sind zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes"

Seite 3: In "Echokammern" und "Filterblasen" stecken immer die anderen

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In diesem Teil der Rede werden die Worte "wir" und "uns" auffallend häufig gebraucht. Dies lässt darauf schließen, dass der Moment der Beeinflussung besonders groß ist. Und das ist auch kein Wunder. Hier kommen einige der zentralen Begriffe zum Vorschein, die seit geraumer Zeit im Kampf um die Deutungshoheit und um die Bestimmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Feld geführt werden.

Es würde den hier zur Verfügung stehende Rahmen sprengen, wollte man alleine die Begriffe "Echokammer" und "Filterblasen" im Detail auf ihren manipulativen Charakter hin analysieren. Daher sei hier nur gesagt: So wie beide Begriffe heute in der Regel sowohl von Medienvertretern als auch Politikern gebraucht werden, dienen sie nicht einfach nur dazu, ein Phänomen zu beschreiben, nämlich jenes, dass es Menschen gibt, deren Meinungsbild sich in einem sehr enggesteckten Rahmen bewegt. Medienvertreter und Politiker haben die Wörter Echokammer und Filterblase zu Kampfbegriffen mutieren lassen. Diese eignen sich nun hervorragend, um die ungeliebte Meinung eines Gegenübers von vorneherein als unqualifiziert aus einer Debatte auszuschließen.

Dieser beiden Begriffe bedient sich Steinmeier und zwar in ihrem vollen Gewicht als Kampfbegriffe. Eine kritische und reflektierte Einordnung findet nicht statt. Weiter mit der Analyse.

Über Echokammern und Filterblasen reden wir nun schon recht lange...

Wie im Laufe der Analyse festgestellt wurde, versteht Steinmeier es, über etwas zu reden, ohne darüber zu reden (was dazu führt, dass seine Worte dann doch wiederrum vielsagend sind). Anders gesagt: Steinmeier redet (siehe oben) von "Mauern", die "im Weg stehen", aber deutlich wurde, dass es eben nicht um Mauern, sondern um eine verfehlte Politik geht (über die er nicht redet).

Auch an dieser Stelle muss erkannt werden, dass die Begriffe Echokammern und Filterblasen der Verschleierung dienen. Sicher nicht immer, aber gerade dann, wenn man die Gesellschaft in ihrer Breite im Blick hat (wie es in der Rede von Steinmeier der Fall ist) gilt es festzustellen, dass die vermeintlichen Echokammern und die vermeintlichen Filterblasen oft nichts anderes sind als jener Resonanzboden, den eine Politik hat entstehen lassen, die zu lange, mit zu viel Wucht über die Köpfe vieler Menschen im Land hinweg regiert hat.

Nun zu der Aussage "recht lange". Deutlich wird: Steinmeier hat die "Echokammern" und "Filterblasen", also die Verärgerung über die verfehlte Politik, schon länger wahrgenommen bzw. erkannt. Aber offensichtlich haben Akteure wie Steinmeier darauf gesetzt, dass die Auswirkungen ihrer fatalen politischen Weichenstellungen irgendwann aufhören würden, sie zu behelligen.

Bildlich gesprochen: Hände vor die Augen halten, Kopf in den Sand stecken. Eine Politik offenbart sich, die Merkel in nichts nachsteht (abwarten, aussitzen), und somit auch wieder mal einen Hinweis bietet, dass die großen Parteien CDU und SPD sich kaum noch voneinander unterscheiden.

Man könnte auch sagen: Hier entlarvt sich ein Politiker unfreiwillig selbst, und zum Vorschein kommt, was viele Bürger Politiker vorwerfen: nichts tun.

Diese Interpretation wird durch die nachfolgenden Sätze von ihm nicht etwa konterkariert. Im Gegenteil. "Fliehkräfte", stellt Steinmeier fest, seien entstanden, die längst nicht mehr nur in Internetforen vorhanden sind, sondern auch auf "offener Straße" ihr Wirkung entfalteten. Der Bundespräsident spricht von "Haarrissen", aus denen längst "tiefe Gräben" geworden seien.

Man gebe bei Google nur einmal die Begriffe "Haarrisse" und "Flugzeug" ein und bemerke, wie aufgeregt Passagiere, Medien, aber auch wie professionell begutachtend die Flugzeugbauer reagieren. Deutlich wird: Ein Haarriss nimmt keiner auf die leichte Schulter. Wie hat eigentlich Steinmeier, wie hat seine Partei auf die von ihm festgestellten "gesellschaftlichen Haarrisse" reagiert?

Offensichtlich hat "die" Politik bisher kein probates Mittel gefunden, um zu verhindern, dass aus den "Haarrissen" "tiefe Gräben" geworden sind (was natürlich auch schwierig ist, wenn man die Ursachen für die Entwicklung nicht sehen will).

Zum Vorschein kommt eine Politik, die jene Stimmen, die sich in "Internetforen" formieren, nicht erst genommen hat. Der Modalpartikel "nur", der dem Begriff "Internetforen" vorangestellt ist, verdeutlicht, dass hier offensichtlich auch eine gehörige Portion Verachtung gegenüber einem Protest mitschwingt, der sich im Netz, in Foren, artikuliert.

Der Eliteforscher Michael Hartmann sprach die Tage in einem Interview über die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich. Er sagte:

Die politische Reaktion auf diese Politik ist, dass viele Bürger nicht mehr wählen gehen. Dieses klare Signal wurde über viele Jahre ausgesandt und es war deutlich zu sehen. Aber haben die Nichtwähler wirklich jemanden interessiert? Gab es eine aufgeregte Medienberichterstattung? Nein. Man muss feststellen: Im Prinzip waren die Nichtwähler den Eliten ziemlich egal. Und so haben sich viele Menschen gedanklich immer weiter von den Parteien entfernt.

Michael Hartmann

Systematisches Versagen von Politik und Medien

Diese Aussage sollte sich Steinmeier gut hinter die Ohren schreiben, wenn er sich das nächste Mal über einen Protest äußert, der "nur" in Internetforen zu finden ist. An dieser Stelle der Analyse zeigt sich, dass wir es mit einem geradezu systematischen Versagen sowohl von Politik als auch von Medien zu tun haben. Die Ausgegrenzten, diejenigen, die wissen, dass ihre Stimme nicht gehört wird, weder bei Wahlen von politischer Seite noch von den Medien, die so tun, als existierten sie nicht, äußern sich dann eben irgendwann dort, wo es ihnen möglich ist. Dass Menschen, Bürger, sich in Internetforen austauschen, ihre Kritik, und ja: auch ihre Wut, gegen "die da oben" zum Ausdruck bringen, ist nur die logische Konsequenz des Versagens von zentralen Teilen des demokratischen Systems. Wenn Parteien Bürgern keine Stimme mehr geben, wenn Medien die "Unliebsamen" nicht zu Wort kommen lassen, dann entsteht ein Druck im Kessel, der über kurz oder lang immer höher wird.

Eingerahmt von Ausdrücken wie "Wut", "Empörungsfetzen" (die auch noch "hin- und herfliegen" - wie von Sinnen), "Hass", "Gewaltausbrüchen", "sozialmoralische Rage" und "Dauerempörung" wird der Protest soweit entwertet, dass längst jede Brücke zu einem Dialog eingerissen wird, bevor überhaupt auch nur der Versuch entsteht, eine Brücke zu bauen. Dass diese Sätze auf einer Veranstaltung fallen, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Bürger in den Dialog zu führen, grenzt am Absurden.

Hochproblematisch in diesem Teil der Rede ist, dass Steinmeier die Gruppe derjenigen, die er meint, einfach nur unter den angeführten Begriffen zusammenpfercht, aber nicht klar benennt, über wen er eigentlich spricht.

Redet er hier von Nazis? Wenn dem so ist, könnte man ihm zumindest in Teilen zustimmen, allerdings stellte sich dann die Frage: Wenn er über Nazis redet, warum nennt er diese dann nicht beim Namen? Nazis sind Nazis und das darf, nein, das muss man auch sagen. Doch genau hier liegt das Problem: An dieser Stelle werden scheinbar Nazis mit Rechten, mit Halbrechten, mit Aufgebrachten, Besorgten, Empörten und Wütenden vermischt. Und so verwundert es nicht, dass Steinmeier es vermag, die Begriffe "Empörungsfetzen" und "Gewaltausbrüche" in einem Satz unterzubringen ganz so, als ob Empörung und Gewalt auf einer Stufe stünden.