Steinmeier: "Es sind zu viele, die sich wohlfühlen im Schlechtreden unseres Landes"

Seite 2: Mauern zwischen "unseren" Lebenswelten

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Weiter im Text. Hier beginnt nun jener Teil der Rede, der tief blicken lässt. "Mauern", stellt Steinmeier fest, seien zwischen unseren Lebenswelten entstanden. Und diese "Mauern" würden dem "gesellschaftlichem Zusammenhalt" im "Wege stehen".

Aussagen wie diese, aus dem Mund des höchsten Politikers des Staates, sind wie ein in Stein gemeißeltes Sinnbild für die schwere Repräsentationskrise, die nicht nur in Deutschland eine Realität ist. Zunächst: Auch hier wäre es angebracht, präziser zu reden. Steinmeier spricht wieder von "wir" und von "uns".

Von welchem "uns" ist hier die Rede? Meint er die "Mauern" zwischen dem rechtsradikalen 18-Jährigen und dem 35-jährigen Lehrer, der die Grünen wählt? Meint er die "Mauern" zwischen der alleinerziehenden Mutter, der gerade ihr Hartz-IV gekürzt wurde, weil sie einen Termin beim Amt nicht wahrgenommen hat, und dem Chef eines kleinen mittelständischen Unternehmens? Oder meint er gar die "Mauer", die zwischen vielen Bürgern und Politiker steht? Eingangs der Analyse wurde es schon angesprochen: Das "Wir" ist ein falscher Freund. Genauso das "uns".

Die zuletzt genannte "Mauer", also zwischen Bürgern und Politikern, dürfte er kaum meinen - und dann wäre es auch besser nicht von "wir" und "uns" zu sprechen. Würde er nämlich von jener "Mauer" sprechen, die Bürger und Politiker geradezu unüberwindbar trennt, dürfte man erwarten, dass er als Politiker, der über viele Jahre aktiv mit die Politik in diesem Land geprägt hat, alles darangesetzt hätte, diese "Mauern" zum Einsturz zu bringen. Aber wo ist diese Politik von ihm und seiner Partei, die "Mauern" eingerissen hat? Hat Steinmeier sich für eine menschenwürdige Reform von Hartz IV eingesetzt? Hat seine Partei in den vergangenen 20 Jahren für sozialen Wohnungsbau gesorgt? Haben Steinmeier und die SPD eine Politik veranschlagt, die die Bürger sagen lässt: Kinderarmut existiert heute nicht mehr in Deutschland?

Nun einige Anmerkungen zur Sprache, die hier zum Vorschein kommt. Da spricht Steinmeier metaphorisch von "Mauern" zwischen "Lebenswelten". Das klingt gut und sorgt sicherlich für Wohlgefallen bei den eigentlichen Adressaten der Rede: den anwesenden Medienvertretern. Eine vage Sprache zeigt sich, die geschickt die handelnden Subjekte, also die Verantwortlichen für die Zustände, über die Steinmeier redet, hinter jene Nebelbank schiebt, hinter der sich die Mächtigen gerne verstecken, wenn es darum geht, über die Fehler und fatalen Weichenstellungen ihrer Politik zu sprechen.

Diese Sprache hat nur ein Ziel: zu verschleiern. Dem gesellschaftlichen Zusammenhalt steht demnach nicht etwa eine konkret benennbare Politik der Sozialdemokraten, einer anderen Partei oder etwa der über Jahre praktizierte Sozialabbau, der vom Trommeln vieler Medien befeuert wurde, im Wege. Nein, es ist eine "Mauer", die "zwischen Lebenswelten steht" - und dann auch noch eine "spürbare".

Was ist bei dieser Rede schlimmer: Dass der Bundespräsident solche Sätze live und in Farbe zusammenklebt? Oder dass hochrangige, wahrlich intelligente Medienvertreter solche Aussagen beklatschen?

Und noch ein Letztes zu dieser Stelle: Steinmeier möchte also, dass Mauern überwunden werden. Da Steinmeier, wie vermutet werden darf, kaum von sich selbst spricht, geht es also darum, dass Bürger die Mauern überwinden. Übersetzt und leicht zugespitzt lautet die Aussage also: Bürger, überwindet die Hürden, die wir Politiker euch in den Weg stellen.

Es geht um die Frage, ob wir uns in unseren Echokammern verschanzen wollen, in Filterblasen nur noch mit Gleichgesinnten kommunizieren, ob wir uns von Algorithmen am liebsten die eigene Meinung bestätigen lassen - oder ob es uns gelingt, den Dialog zu führen über Trennendes hinweg. Genau das versucht Deutschland spricht, und dafür bin ich allen Beteiligten und Partnern, und ganz besonders den Initiatoren bei ZEIT ONLINE, überaus dankbar!

Über Echokammern und Filterblasen reden wir nun schon recht lange; und offensichtlich wird es immer dringender, Gegenstrategien zu entwickeln. Denn die Fliehkräfte wirken lange nicht mehr nur in Internetforen, sondern auf offener Straße. Aus gesellschaftlichen Haarrissen sind tiefe Gräben geworden. Wir erleben Wut und Protest auf deutschen Straßen, hin- und herfliegende Empörungsfetzen, Hass und Gewaltausbrüche. Wir erleben Dauerempörung, eine sozialmoralische Rage, mit der Gruppen regelrecht gegeneinander in den Kulturkampf ziehen. Und wir erleben sogar, dass dabei die Existenzberechtigung des anderen in Abrede gestellt wird - bis hin zur neuerdings wieder selbstbewusst vorgetragenen Verächtlichmachung unserer politischen Ordnung als "System", eine Verächtlichmachung, die in der Regel nichts anderes ist als ein Frontalangriff auf die liberale Demokratie und ihre Institutionen.