Syrien - Christen in Angst
Seite 6: Christen im Machtbereich der SDF
- Syrien - Christen in Angst
- Christen im Machtbereich des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad
- Die syrische Rebellion und die Christen
- Radikalisierung der syrischen Opposition
- Christen im Machtbereich der syrischen Islamisten und unter türkischer Besatzung
- Christen im Machtbereich der SDF
- Die Flucht der Christen aus Syrien
- Handlungsempfehlungen und Forderungen
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Syrien ist ein multiethnisches Land, obwohl die große Mehrheit arabisch ist. Die größte ethnische Minderheit stellen die Kurden dar. Die syrischen Kurden sind nun auch zu einer eigenständigen Konfliktpartei geworden, auch weil viele von ihnen allein kurdische Interessen im Blick haben und eine autonome Selbstverwaltung ihrer Siedlungsgebiete nach Vorbild der autonomen Region Kurdistan im Irak anstreben.
Die syrischen Kurden sind in weiten Teilen militärisch organisiert, kämpfen aber im Bürgerkrieg mehrheitlich auf keiner Seite. Sie wurden in den vergangenen Jahrzehnten vom Regime unterdrückt und sind daher keine Verbündeten von Präsident Assad.
Allerdings kommt es auch nicht zu einer Allianz mit der restlichen syrischen Opposition, auch weil diese von der Türkei unterstützt wird und das Verhältnis zwischen Kurden und der Türkei vorbelastet ist durch die Jahrzehnte Verfolgung der Kurden durch alle Regierungen in der Türkei, wo auch die in Deutschland verbotene kurdische PKK seit 1984 aktiv ist.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Türkei gegen die syrisch-kurdische Region Afrin im äußersten Nordwesten des Landes führt dazu, dass die Mehrheit der Kurden in Syrien endgültig mit der protürkischen syrischen Opposition gebrochen hat. Auch die Kurden werden sich mehrheitlich für die Assad-Diktatur entscheiden und nicht für eine Herrschaft der Islamisten, die von der Türkei unterstützt werden.
Nach der Besetzung Afrins durch die Türkei im März 2018 beherrscht das von Kurden angeführte Militärbündnis "Syrische Demokratische Kräfte" (Englisch Syrian Democratic Forces, kurz: SDF) den Nordosten von Syrien, vom Euphrat bis zum Tigris. Im diesem Gebiet, in der Provinz al-Hasakeh, sind die christlichen Assyro-Aramäer zu Hause.
Hier befanden sich in den letzten Jahren auch viele Christen aus anderen Teilen des Landes. Dieses Gebiet ist heute von besonderer Bedeutung: Kurdische Organisationen haben das "Kurdengebiet" im Norden des Landes in drei Kantone unterteilt - ohne Absprache oder Zustimmung der Regierung in Damaskus oder anderer Staaten - und im Januar 2014 für autonom erklärt.
In Dschasira, so wird die Provinz al Hasakeh genannt, erhalten Assyro-Aramäer, die in dieser Region gleichsam auf eine lange Tradition zurückblicken können, lange nicht gekannte Rechte: Ihre nahezu ausgestorbene Sprache Aramäisch wurde erstmalig in der Geschichte der Region als offizielle Sprache, auch im Schulunterricht, anerkannt.
Darüber hinaus dürfen sie in Jazira ihre Religion frei ausüben und müssen sich vor keiner Diskriminierung fürchten. Eine Verfassung soll diese Rechte absichern. Aus diesen Gründen ist die von den islamistischen Gruppen regelmäßig attackierte Region für die Assyro-Aramäer Syriens von zentraler Bedeutung, müsste aber für ihr Überleben dringend Unterstützung von außen erhalten.
Bedarf gibt es hier insbesondere beim Aufbau der schulischen Infrastrukturen, bei der Wasserversorgung und dem Agrarsektor. Doch nicht alle christlichen Organisationen wollen mit der von Kurden dominierten autonomen Selbstverwaltung kooperieren. Oft fürchten die Christen Sanktionen seitens des Assads Regimes oder der Türkei, wenn sie mit der "kurdischen Verwaltung" zusammenarbeiten.
Eng integriert in der autonomen Selbstverwaltung ist die christliche Partei Suryoye-Einheitspartei (Syrian Union Party, SUP). Diese Partei hat auch eigene Miliz, die in den SDF eingegliedert ist. Die SUP stellt auch den Vize-Präsidenten des Exekutiven Rates der Autonomiebehörde im Kanton Jazira.2 Eine andere christliche Organisation, die Assyrische Demokratische Organisation (ADO), ist in der Opposition. Während eines Aufenthaltes in al-Hasakeh 2019 bzw. in Qamischli trafen GfbV-Mitarbeiter auch Vertreter der ADO. Die ADO ist eine assyrische Organisation in Syrien sowie in Europa, die im Jahre 1957 gegründet wurde.
Die Organisation kämpft nach eigener Darstellung für den Schutz und die Erhaltung der Interessen und Minderheitenrechte des assyrischen Volkes. Sie engagiert sich in der von den syrischen Islamisten unterwanderten "Syrischen Nationalen". Im Gegensatz zur ADO arbeitet die SUP eng mit der PYD zusammen und ist an allen politischen, administrativen und militärischen Strukturen der Autonomiebehörde in Nordsyrien beteiligt.
In al-Hasakeh besuchten GfbV-Mitarbeiter in den letzten Jahren mehrmals die Zentrale der christlichen Miliz Sutoro. Hierbei handelt es sich um eine christliche aramäisch-assyrische Miliz, die im Nordosten Syriens, vor allem in der Provinz al-Hasakeh, aktiv ist. Sie ist der SUP untergeordnet. Sutoro soll über mindestens 1.000 Kämpfer verfügen. Um das Jahr 2011 sollen in der gesamten Provinz al-Hasakeh nach eigenen Angaben, 150.000 Christen gelebt haben, von denen seitdem mindestens die Hälfte ausgewandert ist.
Die Staatsform im zukünftigen Syrien ist für Christen von existenzieller Bedeutung. Das ist der Grund, warum viele Christen in Nordsyrien die autonome Selbstverwaltung unterstützen. Viele oppositionelle Gruppen wollen "mehr Islam" in allen Strukturen des syrischen Staates. "Wir wollen aber ein demokratisches, pluralistisches, dezentrales, säkulares System in Syrien, das die Rechte alle Minderheiten garantiert", sagte Abu Al-Majd, Angehöriger der christlichen Sutoro-Miliz aus al-Hasakeh.3
Die Selbstverwaltung in Nordsyrien garantiert die sprachlichen und kulturellen Rechte der christlichen Assyrer/Chaldäer/Aramäer. Die staatlichen Behörden der autonomen Selbstverwaltung verwenden in der Regel drei Sprachen: Arabisch, Kurdisch und Aramäisch. Diese Gleichberechtigung ist sehr wichtig, besonders für Aramäisch.
Diese Sprache, die zu den bedrohten Sprachen gehört, findet in Rojava immer mehr Beachtung. Auch wenn Christen zahlenmäßig in der Minderheit sind, ist Aramäisch als amtliche Sprache in der Region eingeführt worden. Zum Beispiel findet man auf Schildern der Behörden der Autonomiebehörde auch Angaben auf Aramäisch. Auch in den christlichen Dörfern stehen mittlerweile dreisprachige Straßenschilder.
Hin und wieder kommt es zu Streitereien zwischen Christen, die mit der autonomen Selbstverwaltung arbeiten und denjenigen, die gegen die Autonomie sind. Im Sommer 2018 eskalierte der sogenannte "Schul- und Sprachenstreit" in der Region.
Auf Drängen der SUP veranlasste die "Autonome Selbstverwaltung" in der Region Dschasira (Nordsyrien), alle christlichen Privatschulen, die von verschiedenen christlichen Kirchen sowie von Privatpersonen, Angehörigen der assyro-aramäischen und armenischen Minderheit in der Provinz Al-Hasaka im Nordosten von Syrien geführt werden, zu registrieren.
Mit dieser Entscheidung sollte sich die Aramäische Sprache im Unterricht, der Verwaltung und in den Lehrmaterialien an diesen Privatschulen durchsetzen. Diese Lehrmaterialien sind aber vor der Regierung in Damaskus nicht anerkannt. Auch die Zeugnisse dieser Schulen hätte die Regierung in Damaskus nicht anerkannt. Daher wehrten sich die Privatschulen gegen eine Registrierung bei der autonomen Verwaltung.
Es kam auch zu Demonstrationen der Christen gegen die Schulpolitik der Autonomiebehörde. Die Privatschulen befürchteten außerdem eine gewisse Ideologisierung der Lehrmaterialien durch die christliche Organisation SUP oder durch die in Nordsyrien regierende "kurdische"4 Partei der Demokratischen Union (PYD). Die GfbV wandte sich damals an die Autonomiebehörde in Nordsyrien mit der Bitte, diesen Streit im Interesse aller Beteiligten zu lösen. Auch das Oberhaupt der syrisch-Orthodoxen Kirchen, Patriarch Ignatius Ephräm II. Karim, vermittelte in dem Streit.