Titanen im Wolkenmeer

Xenoblade Chronicles 2

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Sechs Jahre nach dem ersten Teil gibt es nun eine Fortsetzung des japanischen Überraschungs-Rollenspiels "Xenoblade Chronicles". Der zweite Teil bietet eine große Spielwelt, noch mehr Tiefe und erneut eine packende Story.

Vor sechs Jahren gelang dem Entwicklerstudio Monolith Soft ein Überraschungserfolg mit dem japanischen Rollenspiel (JRPG) "Xenoblade Chronicles" für die Wii. Sechs Jahre später folgt für die Nintendo Switch der zweite Teil. Zwar gab es für die Wii-U bereits das Open-World-Spiel Xenoblade X , das die Macher als geistigen Nachfolger bezeichneten, der jedoch keinen Bezug zur Geschichte des ersten Teils hat. Die Wurzeln der "Xeno"-Spiele gehen bis ins Jahr 1998 zu "Xenogears" zurück, an dem Tetsuya Takahashi ebenso maßgeblich beteiligt war wie bei den weiteren Games der "Xeno"-Saga inklusive "Xenoblade Chronicles 2".

Bereits im ersten "Xenoblade Chronicles" war die Spielwelt kein Planet, sondern ein Titan: Bionis bestand aus unterschiedlichen Regionen mit Wiesen, Wüsten und Seenlandschaften. Während der Erkundung erfuhren die Spieler, an welchem Körperteil sie sich befanden. Die Fortsetzung baut das Konzept nun weiter aus: Statt einem gibt es mehrere Titanen, die von einem gewaltigen Wolkenmeer umgeben sind. Mit Luftschiffen können die Bewohner zwischen den Giganten reisen.

Titanen im Wolkenmeer: Xenoblade Chronicles 2 (7 Bilder)

Blühende Landschaften auf den Rücken gewaltiger Titanen

Aller Anfang ist klein

Die Geschichte beginnt mit dem Protagonisten Rex: Der Wolkentaucher lebt anfangs auf einem Titan, der so klein ist, dass er dort alleine ist. Er ist quasi ein Klischee japanischer Rollenspiele: Verträumt, simpel und gutherzig. Die Geschichte beginnt damit, dass er ein Angebot bekommt, das zu gut klingt, um wahr zu sein und es freilich auch ist: Die mysteriöse Gruppe, die ihn als Bergungstaucher für ein unglaublich hohes Honorar anheuert, hat düstere Pläne, die Rex Leben als einfacher Schatzsucher beenden und ihn zum Kämpfer machen.

Die Story bietet zahlreiche Wendungen, die an die guten Erzählungen der "Tales"-Serie oder auch viele "Final Fantasy"-Spiele erinnert, und die hier nicht vorweggenommen werden soll. Fans japanischer Spiele, Mangas oder Anime fühlen sich von der Geschichte angesprochen. Wer mit den typischen Settings nichts anfangen kann, wird auch "Xenoblade Chronicles 2" befremdlich finden. Die meisten Charaktere sind liebevoll ausgearbeitet und haben gerne ambivalente Züge. Neben der Spielwelt besteht ein wesentliches Konzept darin, dass die Kämpfer jeweils Duos aus einem Meister und einer Klinge sind. Letztere heißen zwar so, sind aber keine Waffen, sondern Wesen, die mit ihrem Meister im Einklang sind. Auf seiner ersten Erkundung begegnet Rex der Klinge Pyra. Außerdem lernt er bald die Meisterin Nia und den Möchtegernmeister Tora kennen, die ihre eigenen Klingen mitbringen. Das hamsterähnliche Wesen Tora hat es nie zum echten Meister gebracht, aber als Tüftler eine synthetische Klinge erschaffen, die auch ihn zum Kämpfer macht.

Die Erkundung führt die Heldengruppe über mehrere Titanen. Dabei ist das Spiel nicht so offen wie Xenoblade Chronicles X: Die Handlung verläuft linear und öffnet im Verlauf neue Gebiete. Letztere sind jedoch stets offen gestaltet und keine "Schlauch-Levels". Dank einer Schnellreisefunktion können Spieler bereits besuchte Orte fast jederzeit wieder aufsuchen. Neben der Hauptgeschichte warten zahlreiche Nebenquests, die die Gruppe mit Ausrüstung und Erfahrungspunkten belohnen. Für einige Aufgaben müssen die Helden zwischen den Titanen wechseln. Zudem beeinflusst der Wolkenstand die zugänglichen Bereiche: Ähnlich wie bei Ebbe und Flut sinken und steigen die Wolken.

Feindselige Umgebung

Wie in nahezu jedem JRPG spielen die Kämpfe eine entscheidende Rolle in Xenoblade Chronicles 2. Zahlreiche Geschöpfe, die auf den Titanen leben, sind feindselig. Alle Auseinandersetzungen finden in Echtzeit statt und beginnen, wenn die Spieler den Kampf eröffnen oder aggressive Monster die Helden angreifen. Die Gruppe hat bis zu drei Mitstreiter, weitere Helden sind passiv.

Die Kombination aus Held und Klinge bestimmen die jeweiligen Angriffsmöglichkeiten und die Rolle. Letztere ist RPG-typisch entweder Angreifer, Heiler oder Verteidiger. Aktiv steuern die Spieler üblicherweise Rex, während die Mitstreiter weitestgehend selbsttätig handeln. Allerdings hören sie unter anderem auf das Kommando, alle Angriffe auf einen Gegner zu fokussieren.

Rex mit seiner Klinge Pyra sowie den Mitstreitern Nia und Tora

Die Position beeinflusst zahlreiche Attacken: Manche Angriffe sind von der Seite oder von hinten stärker. Verteidiger bekommen für bestimmte Aktionen an der Front des Gegners einen Bonus. Hinzu kommen Meister-Combos, die in ähnlicher Form bereits Bestandteil des ersten Xenoblade Chronicles waren: Einige Angriffe bringen Gegner ins Schwanken, anschließend lassen sie sich umwerfen, dann in die Luft schleudern und schließlich zu Boden schmettern. Die Mitstreiter führen ihren Part an der Combo jeweils sinnvoll aus, sofern sie ihn beherrschen.

Ob Angriffe seitlich oder von hinten stärker sind, erkennen die Spieler auf dem Bildschirm.

Jedes Meister-Klingen-Gespann beherrscht eigene Meisterkünste, die sich während des Kampfs aufladen und dabei vier Stufen erreichen können. Das Ausführen löst jeweils ein Quick-Time-Event aus: Perfekte Abfolgen stärken den Angriff. Passende Künste lassen sich zu Klingen-Combos verbinden. Da jede Meisterkunst innerhalb der Combo jeweils eine Stufe über der vorherigen liegen muss, erfordert der Einsatz eine gewisse Planung. Insgesamt bieten die Kämpfe trotz einfacher Grundlagen zahlreiche komplexe Optionen. "Xenoblade Chronicles 2" führt die Spieler schrittweise an die einzelnen Bestandteile des Kampfsystems heran, wodurch es sich im wahrsten Wortsinne spielerisch erschließt. Eine wichtige Rolle kommt noch der Gruppenleiste zu, die aus drei Segmenten besteht. Zum einen ermöglicht eine vollständig gefüllte Leiste das Ausführen einer mächtigen Angriffskette, bei der jeder Mitstreiter eine Meisterkunst ausführt. Gleichzeitig ist die Leiste eine Lebensversicherung: Sinkt die Lebensenergie eines Kämpfers auf null, gilt er als k. o., aber sowohl die Spieler als auch die Mitstreiter können die Kampfunfähigkeit für ein Segment der Gruppenleiste aufheben.

Komplexe Charaktergestaltung

Recht komplex ist das System, über das die Charaktere stärker werden. So gibt es alleine drei Arten von Erfahrungspunkten: Allgemeine heben rollenspieltypisch beim Levelaufstieg die Basiswerte der Helden - allerdings erst bei einer Übernachtung im Gasthof. Waffenpunkte lassen sich nur für den jeweiligen Klingentyp verwenden, um einzelne Attacken zu stärken. Schließlich gibt es Talentpunkte, mit denen sich neue Fähigkeiten freischalten lassen. Das Aufleveln der Klingen geschieht separat: Jede hat sogenannten Harmonieringe mit zahlreichen Fähigkeiten, die Spieler durch das Erledigen bestimmter Aufgaben freischalten. Auch gibt es unterschiedliche Arten von Ausrüstung für Meister und Klingen. Der begrenzten Zahl der Slots steht eine Flut an Ausrüstung gegenüber, die Spieler in Kämpfen finden, als Quest-Belohnung erhalten oder in den zahlreichen Geschäften in den Städten kaufen können.

Toras künstliche Klinge Poppi ist in vielerlei Hinsicht besonders und hat zusätzliche Verbesserungsmöglichkeiten.

Dabei gibt es selten die optimale Ausrüstung für alle Fälle, sodass gerade vor Bosskämpfen eine Optimierung sinnvoll ist. Das überlaufende Inventar erschwert jedoch die Übersicht - hier wäre weniger mehr gewesen. Auch erschließt sich nicht so recht, warum das Aufwerten der Klingen durch Hilfskerne einen lästigen und spielerisch eher hinderlichen Zwischenschritt erfordert.

Wechselnde Nebenquests

Das Absolvieren von Nebenquests ist durchaus sinnvoll, da sie oft nützliche Gegenstände und fast immer gute Erfahrungspunkte bieten. Einige haben zudem eine nette Rahmengeschichte, die über das typische "Besiege x Gegner" hinausgehen und häufig zu kleinen Quest-Reihen kombiniert sind.

Nicht nur die Heldengruppe erledigt Aufgaben, sondern im Verlauf des Spiels kommen Söldnereinsätze hinzu. Dafür können Spieler beliebige Klingen auf Einsätze schicken, die Belohnungen bringen und gleichzeitig Fähigkeiten in den Harmonieringen der Klingen freischalten. Einige der Missionen sind Teil regulärer Quest-Reihen, andere erweitern das Sortiment der Händler in den Geschäften. Die Söldnereinsätze laufen jeweils eine bestimmte Zeit im Hintergrund, wobei nur die aktive Spielzeit zählt. Anders als unter anderem in "Assassin’s Creed 2: Brotherhood" arbeiten die Klingen nicht, wenn die Konsole ausgeschaltet ist. Für die regulären Kämpfe fehlen sie freilich während ihrer Einsätze.

Interessante Nebenschauplätze

Nicht nur Nebenquests lockern das Geschehen auf, sondern daneben gibt es einige weitere Aktivitäten. Zahlreiche Stellen laden zum Wolkentauchen ein, und Rex kann dort unterschiedliche Schätze bergen, die er teilweise zu Geld macht, aber auch für einige Quests benötigt. Allerdings lauern auch Monster auf den Taucher. Das Abtauchen läuft ähnlich wie die Meisterkünste als Quick-Time-Event, dessen erfolgreiches Absolvieren die Ausbeute beeinflusst. Für jeden Tauchgang benötigt Rex Zylinder, die er findet und in den Geschäften kaufen kann. Dabei gilt, dass teurere Zylinder längere Tauchgänge ermöglichen und damit potenziell eine bessere Ausbeute bieten.

Auch gibt es zahlreiche Sammelstellen, an denen Spieler unterschiedliche Gegenstände wie Pflanzen oder Erze finden. Auch hier verlieren sie jedoch schnell die Übersicht darüber, was wofür nützlich ist. Ein echtes Handwerkssystem fehlt. Einige Gegenstände benötigt die Gruppe zum Kochen, andere für Quests. Allerdings gilt wie bei der Ausrüstung, dass das Inventar zu schnell unübersichtlich wird.

Retro-Gaming mit Tiger! Tiger!

Ein weiterer Nebenschauplatz ist der Ausbau der künstlichen Klinge Poppi des Meister Tora. Die dazu benötigten Ätherkristalle spuckt der Retro-Spielautomat Tiger! Tiger! In Toras Haus aus. Dabei ist nicht nur die Grafik, sondern auch die Herausforderung Retro: Alleine im ersten Level heil bis zum Grund und wieder an die Oberfläche zu tauchen, dürfte den meisten Spielern mehrere Anläufe abfordern. Fairerweise spuckt der Automat auch dann Gewinne aus, wenn ein Level nur teilweise beendet ist. Tiger! Tiger! eignet sich aufgrund der relativ kurzen Tauchgänge und der Retro-Grafik besonders gut im Handheld-Modus der Switch. Bei der Erkundung oder größeren Kämpfen mit dem kleinen Display benötigen Spieler dagegen recht gute Augen, um die Übersicht zu behalten - dafür ist der TV-Modus deutlich angenehmer.

Modern und klassisch

Über das gesamte Spiel gesehen bietet Xenoblade Chronicles einen anspruchsvollen, aber nie zu hohen Schwierigkeitsgrad. Die normalen Kämpfe sind recht schnell Routine, und die bessere Taktik scheidet selten Sieg von Scheitern, sondern bestimmen eher das Tempo, mit denen die Gruppe voranschreiten kann. Vorsichtige Spieler mögen versuchen, einzelne Gegner anzulocken, während geübte sich mit Gruppen anlegen. Eine zusätzliche Herausforderung kennen schon Spieler des ersten Teils: Überall lauern übermächtige Gegner, die die Gruppe unbedingt meiden sollte, um nicht mit einem Schlag zu Boden zu gehen.

Scheitern ist in "Xenoblade Chronicles 2" relativ: Wird die gesamte Gruppe besiegt, kehrt sie zu einem Schnellspeicherpunkt zurück. Ein klassisches Game Over ist selbst in Bosskämpfen nicht vorgesehen. Letztere fordern ein taktisches Vorgehen und gelegentlich eine gewisse Vorbereitung, um das Team mit der passenden Ausrüstung zu versehen. Auch wenn es keinen einstellbaren Schwierigkeitsgrad gibt, können diejenigen, die nach mehr Herausforderung suchen, schlicht auf Levelaufstiege im Gasthaus verzichten oder die Haupthandlung schnellstmöglich ohne die Boni der Nebenquests durchziehen.

Von der interessanten Story über das komplexe Kampfsystem bis hin zur Charaktergestaltung ist "Xenoblade Chronicles 2" ein großartiges japanisches Rollenspiel, auch wenn die Gestalter verpasst haben, einige Bereiche zu entschlacken - allen voran das Inventar und das Ausrüstungssystem. In vieler Hinsicht wirkt das JRPG wie eine Hommage an die großen Zeiten des Genres. Wer in den 90ern japanische Rollenspiele geliebt hat, ist bei "Xenoblade Chronicles 2" an der richtigen Adresse. Wer sich einigermaßen mit den Nebenaufgaben beschäftigt, dürfte durchaus eine hohe zweistellige Gesamtspielzeit erreichen.