Trump gewährt Aufschub für Einfuhrzölle

Seite 3: Systemkrise und Exportideologie

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Dennoch ist diese Machtkonstellation, in der die Bundesrepublik vermittels Beggar-thy-Neighbor-Politik zu einer "Zentralmacht Europas" (SZ) avancierte, die den binneneuropäischen Schuldenexport im Gefolge der Eurokrise "globalisierte", kein reines Produkt deutschen Großmachtstrebens. Bei der Bundesrepublik handelt es sich vielmehr um einen Krisengewinner.

Inzwischen diskutieren selbst Wirtschaftskolumnisten auf Spiegel-Online, dass der Kapitalismus gerade zugrunde zu gehen scheine, und zwar "ganz ohne Revolution", wie es Henrik Müller formulierte. Dieser langfristige Krisenprozess, bei dem die zunehmenden Widersprüche des Kapitals dieses an die innere Schranke seiner Entfaltungsfähigkeit führen, motivierte auch die Agenda 2010.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts galt Deutschland aufgrund hoher Arbeitslosigkeit und konjunktureller Stagnation als der "kranke Mann Europas", der gerade durch Hartz IV und Schuldenexport wieder zu einer scheinbar heilen Arbeitsgesellschaft gesunden konnte - auf Kosten der Verwüstung eben der Wirtschaftsräume, die die deutschen Exportüberschüsse aufnehmen.

Die Bundesrepublik konnte mit ihrem Schuldenexport deswegen erfolgreich sein, weil dieser in einer Zeitperiode der Globalisierung realisiert wurde, in der keine anderen großen Volkswirtschaften diese Strategie verfolgten. Die den kapitalistischen Krisenprozess charakterisierende Verschuldungsdynamik ermögliche es der Bundesrepublik, vermittels Exportüberschüssen von den konjunkturellen Effekten dieser gigantischen Defizitkonjunktur zu profitieren, ohne selber eine ähnlich extreme Verschuldungsdynamik hervorzubringen. Erst mit dem sich abzeichnenden Ende der Globalisierung und dem Aufstieg des Rechtspopulismus gerät diese deutsche Beggar-thy-Neighbor-Politik an ihre Grenzen.

In a nutshell: Extreme Exportausrichtung samt Agendapolitik und Hartz IV stellen Reaktionen der deutschen Funktionseliten auf den objektiven Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems dar. Die Exportausrichtung verschaffte der Bundesrepublik somit tatsächlich einen Aufschub gegenüber dem konkreten Durchbruch der Krisendynamik. Deutschland ist immer noch ein Industrieland, während dies für die USA nur noch bedingt gilt. Die Zeche für diesen Aufschub zahlten diejenigen Bevölkerungskreise, die von der damit einhergehenden Prekarisierung ergriffen wurden, wie auch die Bevölkerungen der Absatzmärkte der deutschen Exportindustrie.

Diese spezifisch deutsche Krisenkonstellation brachte eine entsprechende Exportideologie hervor, bei der die deutschen Exportweltmeisterschaften - und allgemein der Stolz auf die deutsche Wirtschaftsstärke - zu einem wichtigen Merkmal deutscher Identität wurden. Zugleich wurden die seit Jahren bekannten, evidenten Folgen dieser Beggar-thy-Neighbor-Politik in der Öffentlichkeit hartnäckig ausgeblendet oder negiert.

Dieser breit propagierte Wirtschaftsstolz diente auch als ideologische Entschädigung für all die Verzichtsforderungen, für all den zunehmenden Druck, der auf die bundesrepublikanische Arbeitsgesellschaft im Gefolge der Hartz IV-Reformen ausgeübt wurde. Und etwa zu einem raschen Anstieg psychischer arbeitsbedingter Erkrankungen führte.

Der krisenbedingt zunehmende Druck auf Lohnabhängige führte zur Etablierung eines "autoritären Kreislaufs" in all jenen Gesellschaftsmitgliedern, die sich eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise nicht vorstellen können. Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diesen irrationalen Konstituierungsprozess autoritärer und rechter Ideologien in der gegenwärtigen Krise präzise auf den Punkt gebracht:

Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele - präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen - verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.

Oliver Decker

Die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen kann somit als die eigentliche Geburtsstunde der neuen deutschen Rechten bezeichnet werden. Die neue Rechte ist ein Produkt des Neoliberalismus. Die neoliberale Verzichtspolitik, die von Schäuble europaweit exportiert wurde, förderte somit die autoritäre Aggression gegen die Krisenopfer, auf der rechtspopulistische wie rechtsextremistische Ideologien gleichermaßen beruhen.

Je größer der Druck von "oben", etwa am Arbeitsplatz, desto größer der Hass auf die Krisenopfer unter all den Gesellschaftsmitgliedern, die die entsprechenden autoritären Dispositionen aufweisen. Der Unwille, sich gegen den Druck der Machtstrukturen zu wehren, führt somit zur autoritären Aggression gegen diejenigen, die machtlos sind. Der Masochismus des Untertanen, der sich gegen die zunehmenden Zumutungen nicht wehren will, verlangt nach sadistischer Satisfaktion. Dies wurde vor allem während der Eurokrise evident. Deswegen avancierte etwa Wolfgang Schäuble just dann zum beliebtesten Politiker Deutschlands, als er Griechenland leidenschaftlich demütigte und drangsalierte.

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