Türkei: Regierung verkündet Amtsenthebungen kurdischer Lokalpolitiker

Stadtmauer von Dyarbakir. Foto: Gerry Lynch/CC BY-SA 3.0

Ministerpräsident Yildirim will die Kommunen unter Zwangsverwaltung der Zentralregierung stellen - der nächste Schritt zur Ausschaltung der Opposition

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die türkische Bevölkerung ist nach dem IS-Anschlag auf den Flughafen in Istanbul noch unter Schock. Aber der Unmut über die türkische Regierung wächst. "Jeder weiß doch, dass die Islamisten in Istanbul ihre Rückzugsorte haben…Diese Regierung macht doch nichts für die Sicherheit ihrer Bürger, sondern will nur ihre eigene Macht festigen. Was mit uns passiert, ist denen doch egal." So die Aussage eines 18-Jährigen. Rund 200 Menschen demonstrierten am Mittwoch in Istanbul. Auf ihren Transparenten steht: "Wir sind verärgert!" und "IS-Mörder - AKP-Komplizen".

Anstatt sich um die IS-Zellen im eigenen Lande zu kümmern, hat Ministerpräsident Binali Yilidirim nichts Besseres vor, als die Amtsenthebung kurdischer Lokalpolitiker im Südosten der Türkei am selben Tag zu verkünden - und eine neue Ausgangssperre gegen weitere Dörfer im Norden von Lice. Damit heizt er die Stimmung im eigenen Land weiter auf.

Nach Informationen der Zeitung Junge Welt vom Donnerstag plant der Ministerpräsident, den Stadtverwaltungen zahlreicher kurdischer Gemeinden die Finanzmittel zu streichen. Er begründete diese Entscheidung damit, dass die Lokalverwaltungen aus dem ihnen zugewiesenen Budget der Zentralregierung die PKK finanzieren würde. Beweise dafür lieferte er nicht. Man werde die Verantwortlichen so bald wie möglich dafür bestrafen, so seine Ankündigung.

Wer für was bestraft werden soll, dazu lieferte er keine Begründung. Wozu auch, wenn niemand von der Presse dies hinterfragen kann und darf, ohne seinen Job zu riskieren oder im Gefängnis zu landen. Seit Wochen durchforsten Regierungsbeamte die Unterlagen der kommunalen Behörden auf Fehlverhalten, ohne fündig geworden zu sein.

Deniz Yücel von der Welt sprach gestern vor der Gerichtsmedizin in Istanbul, wo Angehörige der Getöteten des Attentats eingeliefert wurden, mit einigen Journalisten, die für regierungskonforme Zeitungen schreiben und musste vernichtende Kritik an der Regierung zu hören bekommen. Freilich ohne Namensnennung.

"Gerade eine Regierung, die sich selbst als islamisch versteht, dürfte es sich nicht so einfach machen und einfach behaupten, dass diese Mörderbande nichts mit dem Islam zu hat." Die Regierung und die Geistlichen müssten sich dem Umstand stellen, dass sich die Dschihadisten auf den Islam beriefen, sagte einer der Journalisten. Und: "Diese Regierung hat Angst vor dem Volk. Kein Wunder, sie hat diese Mörder lange gehätschelt."

Von daher werden die neuesten Sanktionen gegen die Kurden im Südosten der Türkei in der regierungsnahen Presse kaum oder, wenn überhaupt, positive Erwähnung finden. Wie einschneidend diese Maßnahmen, in einer Parallele zum Vorgehen in den 1980er Jahren, neben den ausgeweiteten Ausgangssperren und Bombardierungen sind, wird noch nicht verstanden.

Der AKP ist ein Dorn im Auge, dass viele der Gemeindeverwaltungen im Südosten der Türkei von der linken demokratischen Partei (HDP) und ihrer lokalen Schwesterorganisation, der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) verwaltetet werden. Deshalb will Yildirim dem ein Ende bereiten und die Kommunen unter Zwangsverwaltung der Zentralregierung stellen. Dass bei den vergangenen Wahlen die HDP/BDP zwischen 50 und über 90 Prozent der Stimmen in vielen Städten und Provinzen des Südostens erlangt haben, führte dazu, dass die türkische Regierung genau diese Städte und Stadtviertel, die besonders ins Auge stachen, unter Ausgangssperren stellte.

Die Gemeinden haben größten Teil der Flüchtlinge versorgt

Über die Zerstörung der Wohnviertel durch Panzer- und Artilleriefeuer, wobei hunderte Zivilisten starben, wurde bereits ausführlich berichtet (Türkei: Regierung enteignet Tausende von Häusern in Cizre, Zerstörtes Diyarbakir). Legitimiert werden diese Angriffe stets mit dem Argument, es ginge darum, einen Aufstand in den kurdischen Gebieten zu bekämpfen. Aber ein Aufstand in der Region würde zuerst die regionalen Verwaltungen und Behörden betreffen. Bürgermeistereien, Verwaltungen würden gestürmt oder besetzt. Aber dem ist und war nicht so. Die Auseinandersetzungen drehten sich immer um die Einmischung des Militärs.

Die lokalen Behörden haben in der Vergangenheit gut mit den Organisationen der Zivilverwaltungen zusammengearbeitet. Es ging um behutsame Stadterneuerung, Ökologie, die Versorgung der Flüchtlinge aus den Irak und Syrien. Die kommunalen Verwaltungen haben mit der Zivilbevölkerung als erste - und das muss immer wieder betont werden - den größten Teil der Flüchtlinge versorgt. Ohne finanzielle oder logistische Hilfe aus Ankara.

Der kleinste Teil der Flüchtlinge wird in staatlichen Flüchtlingslagern versorgt - unter z.T. sehr fragwürdigen Bedingungen, was die "islamischen" Hilfsorganisationen und staatlichen Lager betrifft. Christliche und ezidische Flüchtlinge berichten von Diskriminierung und Misshandlungen durch das Personal wie auch die sunnitischen Flüchtlinge, die z.T. Sympathisanten des IS seien.

Die Angriffe auf die Stadtverwaltungen sind der nächste Schritt, die Opposition auszuschalten

Die Aufhebung der Immunität von HDP - Parlamentarieren im türkischen Parlament und die ihnen drohende strafrechtliche Verfolgung wegen Propaganda für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sind nur der erste Schritt. Mit den Angriffen auf die Stadtverwaltungen wird den Menschen im Südosten der finanzielle und administrative Boden entzogen.

Ercan Akboga, Mitarbeiter der Stadtverwaltung Diyarbakirs, berichtet, dass es einerseits eine direkte Repression gegen Bürgermeister und Mitglieder von Stadtparlamenten und Mitarbeitern der Verwaltung gibt. Sie werden einfach verhaftet. Andererseits "blockieren die nicht demokratisch gewählten, sondern aus Ankara entsandten Gouverneure zahlreiche Entscheidungen der Regionalparlamente".

Der Stadtverwaltung wurde "verboten, in manchen Stadtteilen mit Baumaschinen zu arbeiten. In einigen Bezirken durften wir den Müll nicht mehr abholen. Und man wollte die Stadtverwaltungen zwingen, das Wasser für jene Gebiete abzustellen, die sich unter Ausgangssperre befanden", sagt Akboga.

In Gemeinden, in denen die Verwaltung sich weigerte, gab es Fälle - wie in Cizre und Silopi - bei denen das Militär die Wasserleitungen sprengte. ...in einigen Städten wurden die Gebäude der Stadtverwaltung einfach beschlagnahmt und vom Militär besetzt. Die Mitarbeiter wurden verjagt.

Der Entzug der Finanzen für die Kommunalverwaltungen könnte dazu führen, dass die Bevölkerung Unmut entwickelt, wenn die kommunalen Behörden nicht mehr die Leistungen erbringen können, die die Bevölkerung von ihnen erwartet, so Akboga weiter. Er interpretiert dies als "klaren Versuch, die Bevölkerung von der HDP zu entfremden und zu spalten".