Türkische Militäroperation und IS-Terror in Nordsyrien und im Nordirak

Seite 2: Parteiische Berichterstattung in deutschen Medien

Die Berichterstattung in den deutschen Leitmedien liest sich oft wie aus Ankara diktiert. Da lässt man das türkische Verteidigungsministerium berichten, wie viele Menschen bei ihren Angriffen ums Leben kamen und dass es sich um Selbstverteidigung handele. Die betroffene Selbstverwaltung von Nordostsyrien oder die Räte im Shingal kommen nicht zu Wort. In fast allen Artikeln wird auf die PKK hingewiesen und indirekt die SDF und deren kurdische Einheiten YPG und YPJ mit der PKK gleichgesetzt, indem man sich auf die regierungsamtliche Sichtweise der Türkei beruft.

Der türkische Staat bezeichnet die SDF als Ableger der "Terrororganisation PKK".

Diese jahrzehntealte Konnotation "Kurden = PKK = Terror" garantiert türkisches Wohlwollen, ist konform mit deutscher Staatsräson und hält sich wie zäher Schleim in den Köpfen der Leser und Behörden


"Über ‚Kurdenziele‘ und andere befremdliche Phrasen", ANF, 5. Februar 2022

Auch in einem Artikel der Zeit wird dies deutlich: "Die türkischen Streitkräfte feuerten (…) seit Dienstagabend mehr als 40 Raketen und Granaten auf die kurdisch kontrollierten Gebiete in Nordsyrien ab. (…) Die Bombardierungen richten sich gegen Stützpunkte, Trainingslager und Unterkünfte von PKK und YPG."

Es folgt eine ausführliche Beschreibung, wie viele Dörfer mit wie viel Munition bombardiert wurden, ohne dass hinterfragt wurde, ob die türkischen Äußerungen der Realität entsprechen.

In der ARD-Berichterstattung über den Ausbruchsversuch von IS-Terroristen im Sina-Gefängnis in Hasaka am 20. Januar werden die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nicht namentlich genannt, sondern als "Kurdenmilizen", "kurdische Kämpfer", "kurdische Truppe" oder "kurdisch dominiert" bezeichnet.

Dadurch wird unterschlagen, dass es bei den SDF viele ethnisch oder konfessionell organisierte Militäreinheiten wie zum Beispiel armenische, arabische, turkmenische oder christliche Einheiten gibt. So beteiligte sich beispielsweise die armenische SDF-Einheit "Nubar Ozanyan" an der Niederschlagung des Gefängnisaufstandes.

In einigen Regionen überwiegt der Anteil der arabischen SDF-Mitglieder sogar, da immer mehr arabische Stämme die demokratische Selbstverwaltung unterstützen und Funktionen auf allen Ebenen übernehmen. Indem die Zusammensetzung des Militärs und der Selbstverwaltung auf Kurden reduziert wird, wird das Framing der türkischen Propaganda von den "kurdischen Terroristen oder Separatisten" bedient.

Dieser in Deutschland erzeugte Eindruck verleiht letztlich nicht nur der türkischen, sondern auch der IS-Propaganda Glaubwürdigkeit. Zudem ist das Verschweigen der multiethnischen Zusammensetzung der SDF eine Diskriminierung all jener Araber, Turkmenen, Suryoye und Armenier, die sich im Kampf gegen den IS in Lebensgefahr begeben oder ihrer im Kampf gegen den IS gefallenen Angehörigen gedenken. Schließlich haben alle Bewohner der Region unter den Gräueltaten des IS gelitten.

So, wie viele Ethnien und Religionsgemeinschaften in Nordsyrien für die deutschen Medien anscheinend nicht existent sind, wird auch die Rolle der Türkei in der Planung und Vorbereitung der IS-Angriffe auf das Gefängnis in Hasaka verschwiegen.

Beispielsweise wurden arabische und christliche Einheiten der SDF, die auf dem Weg nach Hasaka waren, um zu helfen, von türkischen Drohnen angegriffen. Bei der erfolgreichen Abwehr des IS-Angriffs wurden 121 Angehörige der SDF und Beschäftigte des Gefängnisses getötet.

"Bei dieser Attacke und den nachfolgenden Kämpfen zwischen Kurden und IS-Kämpfern wurden mehrere hundert Menschen getötet. (…) In al-Malikija (Anm. d. Verf.: Dêrik) hatten am Dienstag hunderte Menschen an der Beisetzung getöteter kurdischer Kämpfer teilgenommen", berichtete das Portal des Senders n-tv. In diesem kurzen Satz werden gleich zwei Bilder bedient: es existieren in der Region nur Kurden, die gegen den IS kämpfen; und die Mitglieder des IS sind nur "Kämpfer", die mit den "kurdischen Kämpfern" sprachlich gleichgesetzt werden. Eine fatale Botschaft, die den IS wie auch die türkische Propaganda befeuert.

Türkisches Militär destabilisiert die Region

Statt an einer friedlichen Lösung des Konflikts in der Region mitzuwirken, befeuert die Türkei den Krieg in Syrien, indem sie dem IS Schützenhilfe gibt. Das ist auch eine Gefahr für Deutschland. Während die westliche Welt auf die Ukraine und Russland schaut, nutzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Gunst der Stunde, um im Nahen Osten Fakten zu schaffen und auf Kosten der Bevölkerung Nordsyriens von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.

Obwohl es allgemein bekannt und hinreichend belegt ist, dass die Türkei den IS auf allen Ebenen unterstützt, widerspricht Charles Lister von der Nahost-Denkfabrik MEI in den USA dem Vorwurf der SDF, die Türkei habe Teile Nordsyriens zu sicheren Rückzugsgebieten für den IS gemacht.

Schließlich konnten ja "vor zwei Wochen 300 IS-Kämpfer an allen SDF-Kontrollposten vorbei zum Gefängnis in Hasaka mitten im SDF-Gebiet im Osten Syriens" vorstoßen, um Gesinnungsgenossen zu befreien. Trotzdem behaupte niemand, dass die Kurden dem IS geholfen hätten, wird Lister im Tagesspiegel zitiert.

Der angebliche Terrorexperte scheint nicht gut informiert zu sein, denn es gibt Aufnahmen von festgesetzten IS-Terroristen, die gestehen, aus den türkisch besetzten Gebieten mit Hilfe der Türkei den Aufstand von langer Hand geplant zu haben.

IS-Chef Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi – alias Abdullah Qardash, alias Haji Abdullah –, auf den die USA 2020 ein Kopfgeld in Millionenhöhe auslobte, ist tot. Als US-Elitesoldaten vergangene Woche das Anwesen angriffen, kam Al-Kuraischi, wie der ehemalige IS Chef Al-Baghdadi 2019, einer Festnahme zuvor und sprengte sich und seine Familie in die Luft. Laut US-Präsident Joe Biden soll Al-Kuraischi auch für den IS-Angriff auf das Gefängnis in Hasaka verantwortlich gewesen sein.

Al-Kuraischi lebte unbehelligt nur wenige hundert Meter von der türkischen Grenze entfernt. In unmittelbarer Nähe seines Wohnhauses im Dorf Atmeh in der Region Idlib sollen sich drei türkische Militärstützpunkte befinden. Al-Kuraischis Anwesen ist nur wenige Kilometer von der ehemaligen Residenz des IS-Führers Al-Baghdadi entfernt.

Unwahrscheinlich, dass der türkische Geheimdienst und die in Idlib regierende islamistische Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) nichts davon wusste, auch wenn Charles Lister meint, HTS könne nicht jeden Einwohner von Idlib überwachen.

Verantwortung der internationalen Gemeinschaft im Anti-IS-Kampf

Während die Bundesregierung und auch die USA mit deutlicher Sprache gegen die Autokraten in Osteuropa wie etwa in Belarus und aktuell gegen Russland im Ukraine-Konflikt Stellung bezieht, lässt sie im Nahen Osten Autokraten wie Erdogan freie Hand bei völkerrechtswidrigen Interventionen in seinen Nachbarländern Syrien und Irak.

Wo bleibt der Aufschrei der grünen Parteibasis? Außenpolitik soll mit Menschenrechten vereinbar sein, sagt Außenministerin Annalena Baerbock. Sind nun die Angriffe auf zivile Einrichtungen wie die Stromstation im nordsyrischen Dêrik, das Flüchtlingscamp Maxmur oder das ezidische Shingal-Gebiet im Nordirak mit Menschenrechten vereinbar?

Seit Jahren bittet die demokratische Selbstverwaltung in den umkämpften Gebieten um Unterstützung beim Aufbau eines demokratischen und dezentral organisierten Systems, damit die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet wird, Fluchtursachen verhindert und vor allem der Zulauf zum IS aus wirtschaftlichen Gründen verhindert wird.

Solange nichts in dieser Richtung passiert, bleibt die Terrormiliz IS ein langfristiges Problem, sagt der Außenbeauftragte der Selbstverwaltung, Abdulkarim Omar. Der Angriff auf das Gefängnis in Hasaka war nach seiner Meinung Teil eines ausgeklügelten und umfassenden Plans, an dem der türkische Staat und seine Söldner in den besetzten Gebieten Nordsyriens von der Planung, über die Logistik bis hin zu Truppennachschub und nachrichtendienstlicher Aufklärungsarbeit aktiv beteiligt waren.

Es sei Realität, dass der IS sich in Syrien, im Irak und in den von der Türkei besetzten Gebieten reorganisiert und versucht, in seinem ehemaligen Kerngebiet wieder Fuß zu fassen. Durch die Schließung des Grenzübergangs Til Koçer (Arab. Al-Yarubiya, im Osten zum Irak) kann der Bedarf an humanitärer Hilfe in der Region nicht gedeckt werden.

Die dadurch und durch das Embargo verursachte Armut bietet dem IS einen ideologischen Nährboden, wenn nicht schnell die wirtschaftliche Entwicklung Nord- und Ostsyriens gefördert wird. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) schließt aber nach wie vor mit Blick auf die Türkei, Wiederaufbauprojekte in der Region aus.

Seit Jahren fordert die Selbstverwaltung auch ein internationales Sondergericht vor Ort zur Verurteilung der IS-Terroristen. Dies hätte den Vorteil, dass Beweise und Zeugen vor Ort sind. Doch dieser Vorschlag stieß auf taube Ohren.

Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke stellte in der letzten Legislatur einen Antrag (Bundestags-Drucksache 19/27314), um die umgehende Rückholung der in Nord- und Ostsyrien inhaftierten deutschen IS-Mitglieder samt ihrer Familienangehörigen und ihre Überstellung an die hiesige Justiz zu fordern. Der Antrag wurde von der Regierungsfraktion CDU/CSU und SPD sowie der FDP und AfD abgelehnt.

Dass die Herkunftsstaaten nicht gewillt sind, ihre in Nordsyrien inhaftierten IS-Terroristen zurückzunehmen, ist ein deutliches Statement. Die Terroristen und ihre Angehörigen sollen unter den katastrophalen Haftbedingungen in den Gefängnissen und Lagern bis zum Sanktnimmerleinstag schmoren.

Dass sie dadurch erst recht eine neue IS-Generation heranziehen, scheint nicht zu interessieren. Der Außenbeauftragte der Selbstverwaltung hält fest: "Solange es für Syrien in Anbetracht der realen Situation keine Lösung im Rahmen des Aufbaus eines demokratischen und dezentral organisierten Systems gibt, wird der IS ein langfristiges Problem bleiben. Ein Wiedererstarken der Miliz wird nicht zu verhindern sein."

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