Ukraine: Eine russische Offensive ist wahrscheinlich
Vieles spricht für einen Versuch der russischen Armee, im Winter oder im Frühjahr aus der Defensive zu kommen. Ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Der Ukraine fehlen unterdessen Ersatzteile für westliche Waffen.
Ein Bericht der exilrussisch-oppositonellen Online-Zeitung Waschnye Istorii ("Wichtige Geschichten") vom Freitag verbreitete sich sehr schnell auch in großen deutschen Zeitungen.
Unter Berufung auf zwei Quellen im russischen Generalstab und im Inlandsgeheimdienst FSB plane die russische Armee im Frühjahr eine Großoffensive "ohne Rücksicht auf Verluste". Die Front sei bis dahin verstärkt durch Mobilisierte, die auch bereits für den Kampf ausgebildet seien, anders als die eilig nach vorne geworfenen ersten Rekruten, die ohne viel Effekt aufgerieben wurden.
Möglicher Verlust von 100.000 eigenen Soldaten schreckt "niemanden ab"
Die FSB-Quelle meinte, durch die Offensive könnten sich die russischen Verluste auf 100.000 Soldaten steigern, aber das "schreckt niemanden ab". Was ist von solchen Geschichten zu halten? Tatsächlich verfügen exilrussische Zeitungen oft über Quellen innerhalb der Staatshierarchie, auch weil viele der Veröffentlichungen noch bis zum Kriegsausbruch in Russland selbst beheimatet waren.
Damit unterscheiden sie sich vom Gros der westlichen Presse, bei dem die Quellenlage in den Verwaltungsspitzen Russlands düster ist. Unter dem Risiko drakonischer Strafen geben auch unzufriedene Verwaltungsspitzen nur Informationen an Dritte weiter, wenn sie sie gut kennen und am wenigsten an ausländische Vertreter "unfreundlicher Länder", wie der Westen in Russland jetzt heißt.
Die Information, nach der Ausbildung der Mobilisierten würden sie für eine große Offensive genutzt, decken sich mit öffentlichen Angaben von russischen Experten. So rechnete auch Wassili Kaschin von der Higher School of Economics gegenüber Telepolis mit einer Offensive zu diesem Zeitpunkt.
Es ist schon von seiner Tradition damit zu rechnen, dass das russische Oberkommando bei einer Offensive große eigene Verluste in Kauf nimmt. Auch im Zweiten Weltkrieg waren die Verluste der Roten Armee exorbitant hoch - ihre Inkaufnahme führte sie dennoch zum Sieg gegen Nazideutschland. In genau dieser Tradition sieht sich die Führung der Invasionsarmee in russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und zeigt das durch viel sowjetische Symbolik vor Ort.
Bis eine Offensive starten kann, versucht Russland mit einer defensiven Ausrichtung möglichst viel erobertes Gebiet zu halten - eine Taktik, die in den vergangenen Monaten nicht sehr gut lief. Die Ukraine konnten die Region Charkow zurückerobern und die Stadt Cherson einnehmen. Auch das spricht dafür, dass die russische Führung zumindest versuchen wird, diese für sie defensive Phase des Krieges zu beenden.
Auch sind die ukrainischen Offensiven mittlerweile im Herbstschlamm stecken geblieben. Kleinere russische Angriffsbemühungen brachten in den letzten Wochen ebenfalls nur Ergebnisse im Zentimeterbereich, ein Dorf wurde erobert. Wie es weitergehen soll, damit beschäftigt sich auch die exilrussische Online-Zeitung Meduza. Die Ukrainer könnten Kräfte sammeln, um entweder im Süden den Dnjepr zu überschreiten oder im Raum Lugansk weiter vorrücken.
Ungünstige russische Lage vs. Verschleiß westlicher Waffen
Die russischen Truppen wiederum könnten eine Offensive im Zentrum der Front bei der Stadt Bachmut starten. Dort erfolgten schon in den letzten Wochen immer wieder beharrlich kleinere Angriffe. Söldner von PMC Wagner sind dort eingesetzt, der Truppe des kremlnahen Oligarchen Jewgeni Prigoschin.
Nur an diesem Frontabschnitt sei laut Meduza die russische Logistik im Hinterland in der Lage, eine russische Großoffensive zu versorgen, da Nachschubwege zu anderen Frontabschnitten durch die Kämpfe in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Mit einem entscheidenden Durchbruch rechnet Meduza durch einen solchen Vorstoß Russlands nicht - nur mit einer Zurücknahme der Frontlinie durch die Ukraine, da entscheidende Brückenköpfe für mehr von den Russen in den letzten Wochen aufgegeben werden mussten. Die Ukrainer plagen jedoch auch Sorgen, die ihre Abwehrbereitschaft einschränken.
Bei den vom Westen gelieferten modernen Waffen machen sich Verschleißerscheinungen bemerkbar. Wie die New York Times schreibt, sind aktuell nur zwei Drittel der westlichen Haubitzen einsetzbar, was die Feuerkraft der ukrainischen Artillerie stark einschränkt. Nahezu gleichzeitig meldet der Spiegel, dass auch die vierzehn modernen Panzerhaubitzen 2000 wegen Ersatzteilmangel außer Gefecht gesetzt sind.
Hier rächt sich, dass die Infrastruktur und der Ersatzteilbestand der Ukrainer auf russische Waffen älterer Bauart ausgerichtet sind, die vor dem Krieg von Kiew eingesetzt wurden. Manche High-Tech-Waffe aus Nato-Beständen zeigt jetzt ihre Schwächen nach langen, anspruchsvollen Kämpfen und das schwächt in der Tat die ukrainische Verteidigungsbereitschaft an der Front. Denn Ersatzteile, die erst aus dem Westen herbeigeschafft werden müssen, haben einen langen Anfahrtsweg zur Front.
Die Frage der Kampfmoral
Ein weiteres Problem bei jeder großen russischen Offensivaktion ist die niedrigere Moral der eigenen Truppe gegenüber den Ukrainern, die ihre eigene Heimat fast durchgehend engagiert verteidigen und sich recht geschlossen um ihre Führung scharen. In der russischen Bevölkerung ist die Unterstützung für den eigenen Angriffskrieg dagegen geringer und nur die sogenannte Z-Fraktion, radikale Kriegsbefürworter, stehen vorbehaltlos hinter jeder Eskalation.
Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) vermutet deshalb, dass Russland eine False-Flag-Aktion plant, um einen ukrainischen Angriff auf das russische Mutterland, die Region Belgorod zu simulieren. So solle die "angegriffene" russische Bevölkerung ebenfalls zurück zur Unterstützung der eigenen Militäraktion getrieben werden. Als Belege seiner These deutet das ISW zunehmende Äußerungen russischer Offizieller, sich auf solche Angriffe vorbereiten zu müssen und entsprechende Befestigungen vor Ort.
So spricht vieles für eine kommende russische Offensive, ob sie denn nun im Winter oder erst im Frühjahr stattfinden soll. Wie radikal und umfassend sie sein wird, hängt vom Einfluss radikaler Kriegsbefürworter auf den Kreml ab. Der erfahrene russische Journalist Andrej Perzew schätzt diesen Einfluss in einer Analyse als recht hoch ein.
Das Umfeld Wladimir Putins verfolge aufmerksam die sogenannten Z-Kanäle, die neue Offensiven bis Kiew oder sogar Lemberg im Westen der Ukraine fordern. Diese behaupten, dass sich Friedensverhandlungen aktuell negativ auf das Rating des Präsidenten auswirken würden und suggerieren eine hohe Leidensfähigkeit des russischen Volkes bei der Erringung eines "Sieges" im Kampf gegen den Westen, der hinter der Ukraine stehe.
Perzew spricht hier von einer alternativen Realität, die von dieser Fraktion in Russland erzeugt werde. Diese sei sehr laut vernehmbar, obwohl sich hinter ihr nur ein begrenzter Teil der Bevölkerung versammle.
Allerdings ist die Eskalationsgefahr durch diese Z-Kanäle nicht zu unterschätzen. Ihnen kommt es nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität ihres Publikums an, unter anderem auf den Präsidenten.
Andrej Perzew am 18.11.2022 auf Riddle
Im Kreml wiederum – ebenso wie in Kiew – wird man weiter auf Offensiven statt auf Verhandlungen setzen, so lange die Kosten nicht sicher den möglichen Gewinn übersteigen, wie es der geopolitische Fachmann Andrej Kortunow vom Russischen Rat für Auswärtige Beziehungen einschätzt.
Weitere verlustreiche Waffengänge auch auf Kosten der örtlichen Zivilbevölkerung sind bis zu dieser Einsicht vorprogrammiert, ein militärischer Sieg ist für beide Seiten nur über einen Berg von Leichen zu erreichen.