Ukraine-Krieg: Das große Pokern um den Sieg

Kann der Westen die Sanktionen durchhalten? Und wer blufft, mit welchen Folgen? Und über allem die Frage: Wie wahrscheinlich ist ein Sieg der Ukraine? (Teil 2)

Als ziemlich gesichert kann gelten: Russland kann die Ukraine nicht mehr unterwerfen. Selbst wenn die Ukraine kapitulieren müsste, gäbe es – nach allem, was den Ukrainern angetan wurde – dauerhaften inneren Widerstand.

Seit September hat die Ukraine sogar eine Gegenoffensive gestartet, mehrere tausend Quadratkilometer und einige hundert Dörfer sind zurückerobert worden. Die russischen Truppen haben sich aus der strategisch wichtigen, viertgrößten ukrainischen Großstadt Cherson ans Ostufer des Flusses Dnjepr zurückgezogen und dort verschanzt.

Das Momentum sei auf ukrainischer Seite, heißt es, die Ukraine habe das Heft des Handels in der Hand. Es ist sogar von einem "Sieg" der Ukraine die Rede. Der Westen hat für weitere Milliarden Militärhilfe zugesagt.

Gegen die Siegeshoffnungen steht jedoch der nüchterne Befund, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen Russland und der Ukraine nach wie vor drastisch unterscheiden. Die Angaben des russischen Verteidigungsministers Sergei Schoigu, wonach es in Russland 25 Millionen Reservisten gebe, mögen maßlos übertrieben sein, aber selbst dann, wenn die russische Militärmacht geschwächt würde, so würde die Verfügung über das weltweit größte Nuklearwaffenarsenal ausreichen, um den Nachbar oder sogar die ganze Welt zu bedrohen.

Nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri verfügt Russland über 6.255 Atomwaffen, von denen fast 1.600 einsatzbereit sein sollen.

Nicht nur der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas vertritt die Meinung, dass "ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne "gewonnen" werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt". Der Satz John F. Kennedys als Lehre aus der Kuba-Krise ist auch nach nunmehr 60 Jahren immer noch richtig, nämlich "dass die Führer von Nuklearmächten sich nicht gegenseitig in die Lage bringen dürfen, dass es nur noch die Wahl zwischen Demütigung und Atomkrieg gibt."

Je länger der Krieg dauert, desto schwieriger ist es, eine nukleare Eskalation zu kontrollieren. Die Sorglosigkeit, mit der Hardliner im Westen mit einer nuklearen Konfrontation umgehen, ist besorgniserregend. Hört man manche Politiker und Journalisten über die Bedrohung durch Atomwaffen reden, so erinnert das an die Stimmungslage vor dem Ersten Weltkrieg, die der australische Historiker Christopher Clark in seinem Buch mit dem Terminus der "Schlafwandler" beschrieben hat.

Der Forschungsdirektor des European Council on Foreign Relations (ECFR) Jeremy Shapiro weist mit Recht darauf hin, dass die Gefahr zunimmt, dass Präsident Putin im Angesicht einer für ihn katastrophalen militärischen Niederlage zur Auslösung eines Atomschlags bereit sein könnte.

Putin blufft nicht, sagen Angela Merkel und Joe Biden. Die russische Nuklearkriegsdoktrin erlaubte ja nicht nur Atomschläge mit Atomschlägen zu beantworten, sondern jeden Angriff, also auch einen Angriff mit konventionellen Waffen, der Russlands Überleben gefährdet.

Statt über eine "No First Use-Vereinbarung" zu reden, wurde Mitte Oktober mit dem Nato-Manöver "Steadfast Noon" mitten in Europa der Atomkrieg geübt. Selbst US-Präsident Biden warnt: "Zum ersten Mal seit der Kuba-Krise haben wir es mit einer direkten Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen zu tun" und er malt ein Armageddon an die Wand.

Es wäre allerdings gut zu wissen, dass es das oberste Ziel des Präsidenten wäre, diese Apokalypse zu verhindern. Die atomare Gefahr wird jedenfalls nicht von Leopard-Panzern abgewendet.

Es ist beängstigend, dass der Westen, die EU oder auch die Bundesregierung schweigen, wenn Präsident Selenskyj provozierend von der Nato verlangt: "die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland auszuschließen" und dass es wichtig sei: "dass es Präventivschläge sind, damit sie (nämlich die Russen) wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden".

Es dürfe nicht umgekehrt sein: "Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: 'Ach, du kommst mir so, dann bekommst du jetzt von uns'." Diese Zuspitzung auf einen möglichen Atomkrieg erforderte – statt betretenem Stillschweigen – ähnlich entschlossene Deeskalationsmaßnahmen wie während der Kuba-Krise.

Aus der von Scholz angekündigten "Zeitenwende" darf nicht – wie Heribert Prantl das formuliert hat – ein "Zeitenende" für Europa werden.

Nur mit Erleichterung kann man die Botschaft von Olaf Scholz bei seinem Besuch in China aufnehmen, dass er sich mit Staatspräsident Xi Jinping einig sei, dass "atomare Drohgebärden … unverantwortlich und brandgefährlich" seien. Auch dass Biden und Xi auf dem G 20-Gipfel in Indonesien übereinstimmten, dass "ein Atomkrieg niemals geführt werden sollte", schafft ein wenig Zuversicht.

Vermutlich aufgrund der Hintergrundkontakte des Nationalen Sicherheitsberaters von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, mit Putins außenpolitischen Beraters Juri Uschkow und dem Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, hat der Kreml eine Erklärung verbreitet, wonach Russland "strikt vom Postulat der Unzulässigkeit eines Atomkriegs geleitet wird" in dem es keine Gewinner geben könne und der deswegen "niemals entfesselt werden darf". (Kölner Stadtanzeiger vom 08.11.2022, S. 5)

Aber nicht nur Atomwaffen sind eine große Gefahr für eine nukleare Katastrophe, sondern auch die Kämpfe im Umkreis um die ukrainischen Kernkraftwerke.

Kann Europa und kann vor allem Deutschland die Sanktionen durchhalten?

Die Sanktionen sind zwar gegen Russland als Aggressor gerichtet, sie haben jedoch massive Rückwirkungen auf Deutschland, auf Europa, ja auf die ganze Welt, insbesondere den Globalen Süden. Kanzler Olaf Scholz hat mehrfach als einen seiner "vier klaren Grundsätze für die Politik" im Ukraine-Krieg genannt:

Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland.

Aber wo findet eine Debatte über Nutzen und Schaden der Sanktionen statt?

Es mag schwierig sein, den Nutzen und den Schaden gegeneinander abzuwägen, weil der Nutzen der Sanktionen vor allem politischer Natur ist, während die Kosten überwiegend ökonomischer oder finanzieller Natur sind. Eine sachliche Debatte über das sicherlich hochkomplexe Kosten-Nutzen-Kalkül der Wirkung der Sanktionen ist vor allem auch deshalb geboten, um die Opfer, die bei uns von den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden, argumentativ politisch rechtfertigen zu können.

Allein die Schuld auf Putin zu schieben, wird auf Dauer nicht ausreichen. Ohne eine sachliche Abwägung der ambivalenten Wirkungen der Sanktionen dürfte die Emotionalisierung und Vergiftung des öffentlichen Diskurses weiter zunehmen und das Freund-Feind-Denken könnte eine gefährliche Eskalation auslösen. Nicht ohne Grund spricht Bundeskanzler Olaf Scholz vom "sozialen Sprengstoff".

Auf eine Darstellung der Rückwirkungen der Sanktionen auf uns kann und muss ich an dieser Stelle verzichten. Darüber kann man täglich in den Zeitungen nachlesen und solche Auswirkungen kann man an der Zapfsäule oder an der Kasse im Supermarkt spüren oder die Haushalte haben die Folgen schon schwarz auf weiß auf den Tisch bekommen, wenn die Schreiben ihrer Energieversorger über die Preiserhöhungen bei Gas und Strom eingegangen sind.

Einfach nur ein Ende der Sanktionen und Friedensverhandlungen zu fordern, ist zu schlicht

Dazu einleitend ein Zitat:

Wir richten unsere Politik an den Ursachen für die Energieknappheit, die Energiepreissteigerungen, die Inflation aus und wir kurieren nicht an den Symptomen mit Entlastungspakten und Versprechungen. Die Ursachen sind der Wirtschaftskrieg und die Sanktionspolitik, die die eigene Bevölkerung betreffen und das merken die Bürger und die mittelständigen Unternehmer an ihren Portemonnaies.

Wir stehen an der Schwelle eines Weltkrieges und niemand anderes benennt dieses Risiko. Wir brauchen eine Deeskalation, endlich Friedensverhandlungen mit Russland, zum Nutzen unserer Bürger und vor allem auch unserer Wirtschaft, denn unsere Wirtschaft geht aktuell vor die Hunde, der Mittelstand kollabiert. Das sind die Probleme die wir haben und die Bundesregierung hat keine Antwort darauf.

Von wem könnte dieses Zitat stammen?

Das Zitat stammt von Tino Chrupalla am Abend der Niedersachsenwahl am 9. Oktober in der Wahlsendung des ZDF. Und Betina Schausten, die den AfD-Vorsitzenden interviewte, hatte keinerlei Antwort darauf.

In der Tat profilieren sich derzeit bei uns die AfD oder in unseren Nachbarländern Marine Le Pen, Viktor Orbán, Silvio Berlusconi oder Matteo Salvini, aber auch der Wagenknecht-Flügel der Linkspartei als Unterstützer von Friedensverhandlungen mit Moskau und als Befürworter der Aufhebung von Sanktionen. Nicht ohne positive Resonanz in der Bevölkerung.

Der Sieg der Neofaschisten in Italien ist ein Wetterleuchten am Horizont. Wie lange bietet bei uns die Besinnung auf unsere schlimme Vergangenheit noch Schutz vor einer Entwicklung nach Rechtsaußen, wie in Polen, Ungarn, Italien, Schweden oder Frankreich?

Ach, wenn die Dinge nur so einfach lägen, wie sich die politische Rechte und ein Teil der Linken das so ausmalt.

Die Kernfragen, nämlich wie man realistischerweise zu einem Waffenstillstand und danach vielleicht zu Verhandlungen kommen kann und wo Kompromisse liegen könnten, bleiben unbeantwortet. Die allgemeine Forderung nach einem Ende der Sanktionen und einem schnellen Frieden hilft nicht weiter – solange man nicht sagen kann, wie man zu einem Verhandlungsfrieden kommen könnte.

Da muss man sich schon ein paar Gedanken mehr machen, wie ein Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen zustande kommen könnten und vor allem auch wie man sich auf westlicher Seite dazu positioniert. Es fehlt – wie Antje Vollmer berechtigterweise sagt, eine Debatte über die brennende Frage: Wie kommen wir denn zum Frieden hin?

Die Probleme mit einer Beendigung der Sanktionen fangen schon bei der Physik an: Selbst wenn Russland wieder bereit wäre, Gas nach Deutschland zu liefern, stellt sich die Frage, ob das durch die Zerstörung der Röhren von Nord Stream 1 und 2 physisch überhaupt noch möglich wäre.

Ich will an dieser Stelle keine Spekulationen darüber anstellen, wer hinter den Sprengstoffanschlägen auf die Gaspipelines in der Ostsee stecken könnte. Es fällt aber auf, dass man über die Ermittlungen nichts erfährt und es ist merkwürdig, dass Nord Stream selbst bislang keine Genehmigung für eine eigene Untersuchung erhält.

Ob die zerstörten drei Röhren reparabel sind oder ob über die eine (angeblich) intakte der beiden Röhren von Nord Stream 2 von Russland Gas geliefert werden könnte, ist eine offene Frage. Die Bundesregierung verneint dies. Schon der Lieferstopp über Nord Stream 1 war von russischer Seite ja höchst dubios begründet.

Über die beiden Pipelines Yamal und UGTS könnte zwar viel mehr Gas geliefert werden, meint Bodo Ramelow in der Süddeutschen Zeitung. Aber ist es zu erwarten, dass Polen und die Ukraine, auf deren Territorium die Röhren liegen, da zustimmen würden? Bis die Türkei der von Putin vorgeschlagene Umschlagplatz für russisches Gas nach Europa werden könnte, wird es noch lange Zeit dauern.

Friedensverhandlungen mit Aussicht auf Erfolg können weder von externen Akteuren aufgezwungen noch kann der nachhaltige Bestand der Verhandlungsergebnisse gesichert werden, wenn die unmittelbaren Konfliktparteien das nicht wollen.

Andererseits ist es doch so, dass die Ukraine, um in diesem Krieg bestehen zu können, der massiven militärischen und finanziellen Unterstützung des Westens bedarf.

Die USA haben insgesamt 68 Milliarden US-Dollar an militärischer, humanitärer und finanzieller Unterstützung bereitgestellt und das Weiße Haus hat für das kommende Jahr weitere 37 Milliarden US-Dollar eingeplant. Die Leistungen der 50 Staaten der "Ukraine Contact Group" liegen nach Angaben des Kieler Instituts für Weltwirtschaft bei gut 40 Milliarden US-Dollar. Weitere 18 Milliarden Euro an finanzieller Unterstützung hat die EU-Kommission für das kommende Jahr versprochen, das heißt 1,5 Milliarden Euro pro Monat.

Allein Deutschland hat nach Angaben der Bundesregierung im laufenden Jahr Waffen im Gesamtwert von über 1,5 Milliarden Euro und Mittel für die Ertüchtigungsinitiative von insgesamt zwei Milliarden Euro bereitgestellt. Nimmt man die Flüchtlingshilfe in Europa und die Mittel zur Abschirmung der Energiepreiskrise mit hinzu, so kommt man locker in eine Größenordnung von mehreren Hundert Milliarden US-Dollar. Reuters kalkuliert, dass die Rettung des deutschen Energiesystems allein Deutschland 440 Milliarden Euro kostet.

Man kann die Hilferufe, ja sogar das fordernde Auftreten von Selenskyj und vieler Ukrainer in ihrer Not nachvollziehen. Die Ukraine ist schließlich überfallen worden und hat tausende Tote und Verletzte und Schäden von unermesslicher Höhe zu beklagen!

Diese Betroffenheit darf und sollte aber nicht zu der mutlosen Haltung der Bundesregierung oder der Europäischen Union führen, dass es ausschließlich Sache der Ukraine sei, über den Weg zu einer Waffenruhe und über mögliche künftige Friedensregelungen zu bestimmen.

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