Ukraine-Krieg: Russischer Durchbruch in Awdijiwka – Verteidigung vor dem Kollaps?

Seite 3: Realistische Einschätzungen und strategische Kommunikation

Der Versuch, die russischen Verluste realistisch einzuschätzen, ist wichtig.

Denn bei Unterlassung kann es zu einer gefährlichen Unterschätzung der russischen Streitkräfte kommen, was wiederum gravierende politische Fehleinschätzungen nach sich ziehen kann – wie etwa bei der gescheiterten Frühlingsoffensive der ukrainischen Armee, die unter falschen Annahmen begonnen wurde.

Damals wurde sowohl die Stärke als auch die Moral der russischen Streitkräfte falsch eingeschätzt – mit jetzt dramatischen Folgen für die Armee der Ukraine.

Wenig hilfreich sind in diesem Zusammenhang völlig unbestätigte Aussagen wie die, dass Russland die Hälfte seiner militärischen Fähigkeiten verloren hätte.

Vertrauen wiedergewinnen: Ursula von der Leyen

Dass Russland die Hälfte seiner militärischen Fähigkeiten verloren habe, behauptete etwa Ursula von der Leyen letzte Woche auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos.

Sie stellte dies als "echte Information" vor, ohne die Richtigkeit in irgendeiner Weise zu stützen. Beobachter des Geschehens könnten das auch als Falschaussage lesen.

Pikant ist, dass das Forum sich dieses Jahr explizit mit Desinformation und Propaganda beschäftigt hat. "Rebuilding Trust" war das Motto des Forums.

Selbst Zahlen der Nato-freundlichen Seite Oryx, die die Verluste beider Kriegsparteien auflistet, geben eine solche Aussage, wie sie von der Leyen tätigte, nicht her.

Die Bewertung von militärischen Fähigkeiten

Auch ein Blick auf die Seite Global Firepower lohnt sich. Die Seite vergleicht die Fähigkeiten der Armeen aller Länder und erstellt ein Ranking, allerdings macht sie ihre Bewertungsmatrix nicht transparent. Die Liste wurde vor wenigen Tagen aktualisiert.

Russland belegt wieder, ohne Punktabzug (eigentlich Punktaddition nach der Logik der Seite, denn dort gilt die Null als der Wert einer perfekten Armee) den zweiten Platz, nahezu gleichauf mit der erstplatzierten USA – und dies trotz knapp zwei Jahre Ukraine-Krieg.

Oder muss man sagen, genau deswegen? Ein wichtiges Kriterium für die Bewertung der Fähigkeiten einer Armee sind die Erfahrungen, die die Soldaten machen. Russland und die Ukraine sind die einzigen Armeen in der Welt, die großskaliert in einen Krieg involviert sind.

"Theorie"-Armeen wie die der Nato, China oder Indien, die höchstens in vergleichsweise kleinere Scharmützel verwickelt sind, fehlt dieser Erfahrungsschatz.

Kreative Sichtweisen

Erst gestern titelte die nordrhein-westfälische Regionalzeitung Der Westen:

Putin: Es steht viel schlimmer um seine Armee als erwartet- "De facto zerstört"

Nahezu alle Aussagen des dort zitierten Generalmajors der Bundeswehr, Christian Freuding, lassen sich nur mit einer kreativen Sicht auf den Kriegsverlauf erklären. Inmitten einer russischen Offensive behauptet Freuding beispielsweise, dass Russland in absehbarer Zukunft keine große russische Offensive durchführen wird.

Der Vorgang erinnert den Autor dieses Beitrags an einen berühmten Sketch der britischen Komiker-Truppe Monty Python.

Die modernen russischen Streitkräfte seien, so heißt es im Artikel des Westen weiter, "de facto zerstört. Die gut ausgebildeten Truppenteile existieren nicht mehr, ganze Divisionen sind vernichtet". Auch gibt der Generalmajor bekannt, dass die russischen Truppen "de facto unausgebildet ins Gefecht geschickt" werden.

Die "de facto zerstörten" und "de facto unausgebildeten" russischen Truppen rücken allerdings auf ganzer Linie de facto vor, die wichtige ukrainische Festung Awdijiwka steht de facto kurz vor dem Fall.

Solche Aussagen, wie sie von der Leyen oder Freuding tätigen, sowie deren unkritische Aufnahme solcher Aussagen in Publikationen untergraben nach Ansicht des Autors die Glaubwürdigkeit der seriösen Qualitätsmedien – mit keinen guten Auswirkungen auf das Vertrauen in das Funktionieren demokratischer Öffentlichkeit.